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Der Beschütze

Der Beschütze

Titel: Der Beschütze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Belinda Bauer
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gewesen, und sie vermisste die Kinder schmerzlich. Ihre freche Offenheit, ihre Aufrichtigkeit, ihr Mangel an jeglicher Falschheit. Wie sie bei ihr Trost suchten oder mit einem Witz ankamen, den sie sich extra für sie aufgehoben hatten, ihr formlose Klumpen aus bemaltem Ton zum Geburtstag schenkten, und wie sie sich bereitwillig bemuttern ließen, wenn sie sich das Schienbein am Klettergerüst aufgeschrammt hatten.
    Im Laufe der Jahre hatte Lucy Steven eine Tasse Tee oder Kekse angeboten, in der Hoffnung, dass er länger bleiben würde, doch er hatte dergleichen niemals angenommen. Zwischen seinen Augenbrauen erschien dann immer eine kleine Furche, als erwöge er das Angebot tatsächlich, und dann sagte er stets dasselbe: »Äähmm … nein danke.« Also hatte sie damit aufgehört und erkundigte sich stattdessen hin und wieder, wie es ihm ginge. Er antwortete knapp, ohne den Blick vom Fernseher abzuwenden, mit einer erfrischenden Gleichgültigkeit seinem eigenen Ego gegenüber, so dass es klang, als hätte sein bisheriges Leben aus den eintönigsten sechzehn Jahren in der Geschichte der Menschheit bestanden. Er wohnte mit seinem kleinen Bruder Davey bei seiner Mutter und seiner Großmutter. Sie unternahmen nichts und fuhren nie weg. In der Schule lief wohl alles ganz gut. Geschichte mochte er gern, und er konnte gut Briefe schreiben. Einmal hatte er ihr eine Plastiktüte mit Karotten mitgebracht, die er und sein Onkel Jude im Garten gezogen hatten. Ein anderes Mal Bohnen. »Die mag ich nicht, aber es macht Spaß, sie wachsen zu lassen«, hatte er gesagt und zugesehen, wie Polizeitaucher einen aufgedunsenen Leichnam aus einem Fluss zogen. »Wasser macht alle Spuren kaputt«, hatte er an den Bildschirm gewandt ernst hinzugefügt, und Lucy hatte den Kopf abgewandt, weil sie lächeln musste.
    Mit der Zeit erzählte Steven ab und zu sogar etwas, ohne dass sie ihn gefragt hatte.

    Seine Mutter hatte eine neue Putzstelle in der Schule und war jetzt immer da, wenn er nach Hause kam. Er sei dabei, Zwiebeln zu pflanzen; seine Nan hatte versprochen, sie einzulegen. »Da wird mir ganz komisch im Mund, wenn ich nur dran denke.« Sein Freund Lewis hatte Geburtstag, und Steven hatte ihm ein Katapult gekauft. »Und Munition«, ergänzte er geheimnisvoll.
    Lucy fand das alles faszinierend.
    Jetzt stellte sie die Antiquitäten-Sendung auf stumm, in der Hoffnung, dass Steven die so entstandene Pause mit ziellosen Jungenworten füllen würde.
    Nach ein paar Sackgassenfragen landete sie einen Treffer, als Steven erzählte, dass seine Nan sich auf dem Markt in Barnstaple Hausschuhe gekauft und dann darauf bestanden hatte, sie zu behalten, obwohl es zwei linke Schuhe waren. »Sieht aus, als ob sie ständig um die Ecke läuft«, meinte er ernst und schien angenehm überrascht, als Lucy lachte.
    Er wandte sich wieder dem Fernseher zu. »Den kenne ich schon«, seufzte er angesichts einer Frau mit einem hässlichen Keramiktopf und stand auf. Zehn Minuten die Woche  – manchmal auch fünfzehn  –, das war alles, was Steven Lamb ihr schenkte, doch Lucy genoss diese Zeit.
    »Wiedersehen, Mrs. Holly«, nuschelte er.
    »Wiedersehen, Steven«, antwortete sie und lauschte dem Quietschen und dann dem Rumpeln, das seinen Abgang für eine weitere Woche bedeutete. Sie dachte daran, wie sein Leben langsam Gestalt annehmen würde  – irgendwo anders, fern von ihr  –, und seufzte. Jetzt verstand sie, wieso ihre Mutter so oft anrief.
    Als sie wieder zu Der Exorzist umschaltete, hatte sie die Szene mit dem Kopfdrehen verpasst und spulte zurück. Dann sah sie zu, wie der Hals des Dämonenmädchens sich wieder und wieder grauenhaft knirschend herumdrehte  – und sehnte sich dabei die ganze Zeit nach einem Kind.

21 Tage
    Die Heizung im Stallapartment war ausgefallen, und allem Anschein nach hatte das kurze nächtliche Schneegestöber auch die Fernsehantenne außer Gefecht gesetzt, denn selbst die wenigen verfügbaren Programme waren jetzt nur noch durch weiße Statikwirbel sichtbar. Nachdem er das lauwarme Wasser verflucht und das Rasieren bleibengelassen hatte, beschloss Marvel, dass er dringend jemanden anbrüllen musste, also rief er Jos Reeves an, eine gute Stunde, bevor dieser im Labor sein musste.
    »Also«, sagte Reeves gelassen am anderen Ende der Leitung, und Marvel wurde ganz kribbelig, als er hörte, wie sich der andere eine Zigarette anzündete, ehe er fortfuhr. »Wir haben sieben Haare, Dutzende von Fasern, und den Speichel auf dem

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