Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Beschütze

Der Beschütze

Titel: Der Beschütze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Belinda Bauer
Vom Netzwerk:
aufgewacht, bevor sie gestorben war? Bestimmt. Auch wenn das Kissen da schon auf ihrem Gesicht gelegen hatte. Das Entsetzen. Das hilflose Entsetzen. Lucy fühlte, wie Mitleid sie übermannte. Die arme Margaret.
    Dem Mitleid geradezu schandbar dicht auf den Fersen folgte die übliche Frage: Was würde sie tun?
    Sie überlegte, dass sie den Angreifer beißen würde, damit er sie losließ. Beißen war bizarr und tabu, damit würde der Killer bestimmt nicht rechnen. Also, ihn ins Gesicht beißen wie ein Pitbull. Sie stellte sich den Geschmack seiner unrasierten Wange vor und das Schmerz- und Wutgeheul, während sein Griff sich lockerte. Dann würde sie hochschnellen
und sich zur Seite werfen, um ihn vom Bett zu stoßen  – etwa so!   –, und dann würde sie sich herumdrehen, ihm die Bettdecke über den Kopf schmeißen, mit aller Kraft dorthin treten, wo sie sein Gesicht zuletzt gesehen hatte und zu Mrs. Patton nach nebenan rennen, um zu telefonieren.
    Jawohl!
    Im Geiste war sie ziemlich außer Atem, doch sie schöpfte Kraft aus ihren imaginären Taten, bestärkt in dem Wissen, dass sie für einen solchen Angriff gewappnet war, und zwar mehr als die meisten anderen, für den Fall, dass irgendjemand so etwas bei ihr versuchen sollte, wenn Jonas nicht da war.
    Ein leises Rumpeln, dann das Quietschen des Gartentors und ein verhaltenes Klopfen an der Tür. Lucy schaltete auf ein anderes Programm um und rief: »Komm rein, Steven.«
    Ein schlaksiger Sechzehnjähriger kam mit weißen Kopfhörern in den Ohren ins Zimmer geschlurft und sah ihr nur zögernd ins Gesicht.
    »Ich hab Ihre Zeitung gebracht, Mrs. Holly.«
    Als würde er irgendetwas anderes tun. Die neonfarbene Tasche mit der Aufschrift Exmoor Bugle an seiner Hüfte war der eindeutige Beweis, genauso wie das Rumpeln seines Skateboards draußen auf der Straße ihn allwöchentlich ankündigte.
    »Danke, Steven. Wie geht’s dir?«
    Steven Lamb hatte ihnen die Zeitung gebracht, seit sie hier eingezogen waren, und Lucy hatte von Woche zu Woche mit angesehen, wie er sich von einem Jungen in einen Teenager verwandelt hatte. Anfangs war er ein dürrer Dreizehnjähriger gewesen, klein für sein Alter und so schüchtern, dass er schon bei dem bloßen Gedanken knallrot geworden war und zu stottern angefangen hatte, tatsächlich hereinzukommen, anstatt seine Zeitung einfach durch den Briefschlitz zu schieben. Nur die fünf Pfund Trinkgeld, die Jonas Holly ihm jeden Monat in die Hand drückte, schienen ihn zu überzeugen,
dass der Polizist es ernst meinte  – dass Steven wirklich das Haus betreten und Mrs. Holly die Zeitung persönlich aushändigen sollte.
    »So macht man das hier eben«, hatte Jonas Lucy damals vorgeschwindelt. »Schau nach, ob bei ihr alles Ordnung ist und ruf mich an, wenn’s nicht so ist«, hatte er Steven unter vier Augen angewiesen  – so, wie er Will Bishop, Frank Tithecott und Mrs. Paddon von nebenan um dasselbe gebeten hatte.
    Es hatte fast ein Jahr gedauert, bis Steven mehr herausgebracht hatte als ein mit rotem Gesicht genuscheltes »Hallo«, doch er nahm das mit dem Trinkgeld ernst, und wenn Lucy nicht antwortete, wartete er und klopfte dann noch einmal, oder er ging ums Haus herum und schaute im Garten nach. Niemals ging er, ohne sie gefunden zu haben, und einmal hatte er Jonas angerufen und ihm berichtet, seine Frau sei oben und weine. Und dann hatte er fast eine Stunde lang auf der kalten Türschwelle auf ihn gewartet.
    Jetzt kam Steven jedes Mal herein und verkündete: »Ich habe Ihre Zeitung gebracht, Mrs. Holly.« Dann forderte Lucy ihn auf, sich fünf Minuten zu setzen, und er tat es  – immer auf den unbequemsten Stuhl im Zimmer  – und blickte auf den Fernseher, schaute sich mit ihr zusammen an, was gerade lief. Manchmal waren es Quizshows, manchmal ging es um den An- und Verkauf von Antiquitäten, meistens aber war es ein Horrorfilm, und sie gruselten sich in geselligem Schweigen. Lucy machte es nichts mehr aus, dass Steven mitbekam, wie sie ihr Troddelkissen als Schutzwall benutzte, und sie erwähnte nie, dass sie oft sah, wie er bei extrem spannenden Szenen sanft die Augen schloss.
    Steven hatte Augen, die oft in weite Ferne zu blicken schienen, als belaste ihn irgendetwas. Seine Hausaufgaben, dachte sie, oder irgendwelche Mädchen, doch sie fragte nie nach. Sie hatte Angst, er würde sich dann scheuen wiederzukommen.
    Und Lucy hatte ihn doch so gern hier.

    Vor ihrer Krankheit war sie Erzieherin in einem Kindergarten

Weitere Kostenlose Bücher