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Der Beschütze

Der Beschütze

Titel: Der Beschütze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Belinda Bauer
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angeschlagenen Spiegel über dem Waschbecken aufsah, bemerkte er die Schrift an der Tür hinter ihm. Graham Nash hatte sämtliche Toilettentüren innen und außen mit schwarzer Tafelfarbe gestrichen und legte Kreide bereit, damit seine Gäste etwas darauf schreiben konnten. Das war eine nette Idee, und so hatte man beim Scheißen etwas zu lesen, doch natürlich kam dabei stets ein Gemisch aus versauten Limericks,
Obszönitäten und Verunglimpfungen heraus, so dass das Ganze regelmäßig weggewischt werden musste.
    Jonas furchte die Stirn und drehte sich zu der Tür der Kabine um, aus der er gerade gekommen war. Dort stand eine einzige Zeile, in seltsam vertrauter, zackiger Handschrift:

    Ein kaltes Kribbeln lief über seine Haut.
    Wer wusste Bescheid? Scheiße, wer wusste, dass er in der Badewanne geweint hatte? Verzweifelt suchte sein Verstand Halt an dem Gedanken, dass irgendjemand ihn gesehen oder gehört hatte, oder einfach wusste, dass er geflennt hatte wie ein kleines Mädchen. Ihm war, als sei seine Privatsphäre völlig zunichtegemacht worden. Die Vorstellung, dass jemand ihn nackt und verwundbar beobachten könnte  – in die sichere Geborgenheit des Badezimmers eindringen könnte, von dem er geglaubt hatte, er teile es einzig und allein mit seiner Frau. Es schien unmöglich. Ihr Cottage war nicht einsehbar, und Mrs. Paddon war die einzige Nachbarin. Sie war eine vornehme Dame Ende achtzig und der letzte Mensch auf dieser Welt, von dem Jonas sich vorstellen konnte, dass er ihn bespitzelte und sich dann auf die Männertoilette im Red Lion schlich, um gemeine Anschuldigungen an die Tür zu kritzeln.
    Mach deinen Job, Heulsuse!
    Noch ein Mord. Noch eine an ihn gerichtete Botschaft.
    Er hatte niemanden hereinkommen hören; allerdings hatte er auch nicht gelauscht, er war tief in Gedanken gewesen. Jemand hätte hereinkommen, das hier schreiben und wieder verschwinden können. Oder? Jonas war sich nicht sicher. Er zermarterte sich das Hirn, ob die Nachricht schon dagestanden hatte, ehe er in die Kabine gegangen war. Das konnte
nicht sein; er hätte sie gesehen. Schließlich hatte er sie von der anderen Seite des Raums aus im Spiegel bemerkt.
    Die Tür der anderen Kabine war geschlossen. Langsam kniete Jonas sich hin und spähte darunter hindurch. Leer. Er drückte gegen die Tür, und sie ging auf, dann schwang sie träge quietschend wieder zu. Schlecht ausbalanciert, das war alles.
    Plötzlich wollte Jonas die Toilette nicht verlassen. Bei dem Gedanken, in den Pub hinauszumarschieren, begann er zu zittern. Denn derjenige, der die Nachricht geschrieben hatte, saß höchstwahrscheinlich dort und beobachtete ihn.
    Die Wahrheit dieser Worte ließ ihn zittern.
    Er machte seinen Job wirklich nicht.
    Er war tatsächlich eine Heulsuse.
    Die Geschichte mit Lucy. Das hatte ihn abgelenkt, hatte ihn dazu gebracht, sich in dem Moment, wo er vollen Einsatz bringen musste, nicht auf seine Arbeit zu konzentrieren.
    Mark Dennis’ Worte klangen ihm in den Ohren. Lucy braucht Sie. Jetzt mehr denn je.
    Jonas machte ein Papierhandtuch nass und wischte die Nachricht von der Tür, dann knüllte er es zusammen und pfefferte es gegen den Spiegel. Es knallte mit einem befriedigenden Klatschen gegen das Glas und bespritzte es in einer Art Pop-Art-Effekt mit Wasser.
    Andere Menschen brauchten ihn jetzt auch mehr denn je.
    Wieder betrachtete er sein verzerrtes Spiegelbild durch die Wasserrinnsale und traf eine Entscheidung.
    Marvel herrschte über seine Tage.
    Doch er war noch immer Herr über seine Nächte.

14 Tage
    Shipcott machte dicht.
    Im Sog zweier Morde zog sich das Dorf in einem irrealen Gefühl des Unglaubens in sich selbst zurück.
    Einem Außenseiter wäre außer verstohlenen Blicken nichts aufgefallen; jeder, der hier lebte, wusste, dass nichts mehr so war wie vorher und dass nichts so war, wie es sein sollte.
    Die Menschen gingen ihren täglichen Geschäften nach. Sie arbeiteten, sie gingen einkaufen, sie führten ihre Hunde spazieren. Doch sogar die Luft in Shipcott war anders geworden, und alle, die dort lebten, nahmen jetzt mit jedem Atemzug ihre Toxine in sich auf. Misstrauen, Furcht und Verwirrung begannen, ihr Dasein zu durchdringen, und sie betrachteten einander mit ganz neuen Augen, die nach Hinweisen auf die Identität des Mörders suchten.
    Es war erst Viertel vor vier, doch das Tageslicht schwand bereits aus dem Himmel. Die Straßenlaternen flackerten orangegelb und wurden langsam warm, und während der Tod noch

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