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Der Beschütze

Der Beschütze

Titel: Der Beschütze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Belinda Bauer
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Ecken und Treppen und Nischen und Rampen. Zwei Zimmer hier, drei dort, zwei Stufen hinauf, um die Ecke, und dann drei weitere Zimmer. Der Strahl seiner kleinen Taschenlampe tanzte umher wie ein Glühwürmchen, als er leise die Korridore entlangschritt.
    Keine Spur von ihr. Gary blieb auf dem breiten Treppenabsatz stehen. Er würde in den Zimmern nachsehen müssen; es wäre nicht das erste Mal, dass sie versuchte, zu jemand anderem ins Bett zu kriechen.
    »Violet!«, zischte er, obwohl sie nie auf Geräusche reagierte, wenn sie schlafwandelte. »Nervige alte Schachtel«, brummelte er vor sich hin, doch das meinte er nicht wirklich ernst. Wenn sie wach war, gehörte Violet zu seinen Lieblingen. Selbst mit zweiundneunzig hatte Violet noch ein gewisses Funkeln. Sie pflegte seine Hand zu halten und ihn »so ein’ hübsch’n Jung’« zu nennen, dann zwinkerte sie ihm zu, denn sie war seit ihrem fünfundsiebzigsten Lebensjahr blind. Es war ein alter Witz, aber ein guter. Als Nächstes berührte sie immer die Ringe, die für alle Zeit an ihren verkrümmten Fingern festsaßen, und zählte ihre Ehemänner auf. »Eddie  – hat nie nich’ auch nur ein’ Penny für wen anders ausgege’m als für sich selbst. Charlie  – das war’n guter Kerl, deswegen isser natürlich auch gestor’m! Nur die Guten, die ster’m jung. Noch ’n Eddie, genau wie der erste  – geh’n Sie bloß nie nich mit ’m Eddie, junger Mann, da ha’m Sie nichts von als wie Kummer und Schulden. Und der da is’ Matthew. Mattie, hab ich ihn genannt, und er mich Viola, wie in dem Shakespeare-Stück, versteh’n Sie? Ich war zweiundsiebzig, wie wir geheiratet ha’m, und er siebzig. Mein Lustknabe. Heb dir das Beste immer für’n Schluss auf, ha’m wir immer gesagt. Immer das Beste für’n Schluss aufhe’m.«
    Darauf tätschelte sie ihm stets die Hand und schaute in
die Vergangenheit, die irgendwo hinter seiner linken Schulter lag.
    Dann legte sie den Kopf schief und fragte: »Kommen da die Kekse?«
    Während er dort im Dunkeln stand und seine Taschenlampe einen hellen Kreis auf den Teppich malte, lächelte Gary. Violet sah einen nur verwirrt an, wenn man ihr »HALLO!« direkt ins Gesicht brüllte, das Öffnen einer Keksdose jedoch hörte sie aus tausend Metern Entfernung.
    Er hörte etwas, das sich wie das Scharren eines Möbelstücks anhörte, zischte: »Violet?« in den Flur und ging weiter. Noch hatte er keine zehn Schritte getan, als er durch die offene Tür des Schwesternzimmers unten hörte, wie Violets Alarm zum zweiten Mal losging.
    Ein Wunder. Sie hatte nach Hause gefunden.
    Er machte kehrt, ging zwei kleine Treppen hinunter, bog um die Ecke  – das dritte Zimmer war »Ginster«.
    Er hatte damit gerechnet, Violet neben ihrem Bett stehen zu sehen, doch sie lag bereits wieder darin.
    Gary blieb in der Tür stehen. »Alles klar, Violet?«, fragte er im Flüsterton. Er wollte sie nicht wecken, doch wenn sie von selbst aufgewacht war, sollte sie wissen, dass er da war. Es kam keine Antwort. Sie schlief. Gut.
    Aus reiner Gewohnheit ließ er den Taschenlampenstrahl über ihre schlafende Gestalt wandern und runzelte die Stirn. Da war die winzige Wölbung im Bett, die Violets Körper war, doch er konnte ihren Kopf nicht sehen. Wie bei allen hier war Violets Haar weiß, doch einmal im Monat kam die Friseurin und verpasste sämtlichen Köpfen eine ordentliche Blauspülung. Eigentlich müsste er doch ihren Kopf sehen können.
    Gary trat näher an das Bett heran und richtete die Taschenlampe aus. Nichts als das weiße Kopfkissen.
    »Violet?«, fragte er vorsichtig und unterdrückte die törichte Panik, die ihm sagte, dass Violets Kopf irgendwie abgefallen war.

    Er beugte sich über die alte Frau und lachte erleichtert auf. Sie schlief mit dem Kopf unter dem Kissen  – das war alles.
    Behutsam hob er das Kissen hoch.
    Darunter lag Violet  – die Augen geschlossen, den zahnlosen Mund ordentlich zugekniffen, und auf ihrer Stirn blühte eine Blutblume.
    Blut.
    Gary Liss starrte das Blut und das Kissen und die alte Dame verwirrt an. Egal, in welcher Reihenfolge er sie ansah, es ergab keinen Sinn.
    Ich muss Paul anrufen. Der weiß bestimmt, was zu tun ist.
    Das war der einzige Gedanke, den Garys benommenes Gehirn zu fassen vermochte. Paul hatte etwas auf dem Kasten. Paul würde sich um das hier kümmern. Denn er kriegte das ganz sicher nicht auf die Reihe.
    Irgendwo in dem langen Tunnel seiner getrübten Sinne hörte Gary Liss den Alarm vor

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