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Der Beschütze

Der Beschütze

Titel: Der Beschütze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Belinda Bauer
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heiseren Flüsterns der Toten kaum denken hören. Räche mich! Räche mich!
    Reynolds hatte sein Notizbuch gezückt, und ausnahmsweise war Marvel dankbar dafür. Sein Kopf war so voll von dem Grauen, das er empfand, dass er das Gefühl hatte, er müsse ihn erst ausleeren wie einen Papierkorb, ehe er sich hinsetzen und anfangen konnte, dieses Gemetzel zu begreifen.
    Im Erdgeschoss konnte er jemanden weinen hören. Lynne
Twitchett schluchzte, seit sie hier angekommen waren, keine zehn Minuten, nachdem Jonas Holly angerufen hatte. Die anderen Heimbewohner weinten immer wieder krampfhaft, und wenn sie nicht schluchzten, trösteten sie mit zittrigen, bebenden Stimmen, die sich fast genauso anhörten wie Weinen, andere, die gerade Tränen vergossen. Rupert Cooke war mit roten Augen kurz nach ihm und Reynolds eingetroffen und war seitdem alle paar Minuten in Tränen ausgebrochen. Reverend Chard versuchte, Worte des Trostes zu finden, während er unverhohlen den Tod seines eigenen Vaters beweinte.
    Chaos ohne Ende.
    Der Einzige, der nicht weinte, war anscheinend Jonas Holly, und das, dachte Marvel bei sich, könnte durchaus daran liegen, dass der junge Constable unter Schock stand. Er war von Lynne Twitchett gerufen worden und hatte Marvel und Reynolds an der Tür empfangen. Dann hatte er mit leiser, vorsichtiger Stimme erklärt, wie er den Tatort gesichert hatte. Er hatte dafür gesorgt, dass alle in ihren Zimmern blieben, soweit das bei verwirrten alten Leuten möglich war, und hatte Rupert Cooke gebeten, sein gesamtes Personal zum Dienst zu beordern, um bei der Organisation zu helfen, falls das Heim wegen der Ermittlungen geräumt werden musste.
    Er hatte sich vergewissert, dass es in den Zimmern im Erdgeschoss und im ersten Stock keine weiteren Opfer gab, und die Leute davon abgehalten, unnötig im Haus herumzulaufen. Er selbst hatte seine Stiefel ausgezogen. »Ich dachte, man kann vielleicht Abdrücke vom Teppich nehmen.« Betrübt zuckte er die Achseln.
    Jonas Holly hatte seine Sache gut gemacht. Dumpf räumte Marvel ein, dass er seine Sache am Schauplatz des Mordes an Margaret Priddy größtenteils ähnlich gut gemacht hatte, wofür ihm keinerlei Anerkennung zuteilgeworden war. Nun ja, das Leben war eben ungerecht.
    Der junge Constable hatte alles in seinem Notizbuch festgehalten
und zog dieses immer wieder sehr viel länger zurate, als notwendig schien  – er starrte die Seiten an, als wüsste er nicht mehr, wo er gerade gewesen war. Einmal war Marvel ungeduldig geworden und hätte ihm beinahe das Notizbuch weggerissen. Doch dann hatte er gesehen, wie der Adamsapfel des anderen heftig arbeitete, und er hatte ihm die Zeit gelassen, die er anscheinend brauchte, um sprechen zu können, ohne dass seine Stimme in unzählige Stücke zersprang.
    Er war selbst nahe dran. Nahe dran an den Tränen. Noch nie hatte er im Job geheult, hatte niemals auch nur gefühlt, wie seine Unterlippe im Rhythmus des Kummers um ihn herum zitterte.
    Aber das hier …
    Das hier war …
    Einfach.
    Nur.
    Tragisch.
    Die alten Leute, hilflos in ihren Betten, die Brillen und Zahnprothesen auf dem Nachttisch.
    Er erinnerte sich daran, wie Lionel Chard unverwandt auf den Fernseher gestarrt hatte.
    Eine Quizsendung.
    Riesenohren.
    Am liebsten hätte er Gary Liss mit bloßen Händen die Visage zu Brei geschlagen. Der Pfleger war verschwunden. War nicht wieder heruntergekommen, nachdem er im ersten Stock gewütet hatte. Jetzt war alles vollkommen klar. Es war immer alles ganz logisch, wenn es viel zu spät war. Wenn sie ihn schließlich schnappten, würde Liss zweifellos irgendeinen lachhaften Grund angeben, warum er nicht in die Teeküche zurückgekehrt war, nachdem er auf das Alarmsignal hin nach oben gegangen war. Würde ihnen erzählen, er hätte die Leichen gefunden und den Verstand verloren. Oder er hätte den Mörder unter großer Gefahr übers Moor verfolgt. Oder er hätte nach Violet Eaves gesehen, und dann sei ihm
eingefallen, dass er zu Hause das Gas nicht abgedreht hatte … Irre waren nur im Film schlau, im richtigen Leben waren sie meistens einfach bloß wahnsinnig. Und für gewöhnlich war es nur die Unfähigkeit der normalen Menschen, das Ausmaß jenes Wahnsinns zu erkennen, die die Verrückten gedeihen ließ, und sei es auch nur vorübergehend. Manchmal hatte Marvel das Gefühl, psychotisch zu sein wäre ein Riesenvorteil für einen Detective beim Morddezernat. Möglicherweise sollte die Polizei da etwas Gestaltungsspielraum bei den

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