Der Besen im System
festgestellt, dass mit nachlassender Hitze, die verständlicherweise so viele Bewohner von Abschnitt J hat verstummen lassen, nun die Rückkehr in die zwischenmenschliche Kommunikation einsetzt«, sagte Mr. Bloemker. »Sie erinnern sich, dass Concarnadine den ganzen Sommer über kein einziges Wort geäußert hat. Jetzt hören wir wenigstens einzelne Wörter, allerdings nur um ihrer selbst willen. Warum es gerade die Ballaststoffe sind? Wahrscheinlich hat ihr eine Schwester gesagt, sie möge ihren Salat essen, wegen der darin enthaltenen Ballaststoffe, und das Wort hat sie seitdem nicht mehr losgelassen. Wir in Shaker Heights glauben an eine geregelte Verdauung durch den Verzehr von Faserstoffen, nicht an Medikamente.«
»Ballaststoffe.«
»Aber offenbar weiß sie nicht, was das Wort bedeutet«, sagte Lenore.
»Zweifellos nicht. Obwohl Lenore auch das Wort »Ballaststoffe« in ihr Lexikon aufgenommen hat. Soll ich mal schauen, ob ich Ihnen eines besorgen kann?«
»Aber warum gerade dieses Wort?«, sagte Lenore. »Concarnadine hat sich nie darum gekümmert, was sie so zu sich genommen hat, sogar das Stonecipheco-Zeug, das früher zufällig herumstand. Gramma C. hatte überhaupt seltsame Essgewohnheiten. Einmal zu Weihnachten – ich war noch klein – hat sie sich mit Großvater gestritten und danach den ganzen Tag nichts gegessen. Sie blieb einfach im Keller und warf Darts auf ein Poster von Jayne Mansfield.«
Concarnadine Beadsman lächelte.
Mr. Bloemker beugte sich über das Bett und zu Lenore. Wann immer Sonnenlicht auf seine Augen traf, entstanden hinter seiner Brille die merkwürdigsten Farben.
»Ms. Beadsman, darf ich eine Theorie äußern bezüglich verschiedener Dinge, die wir zwischen uns besprochen haben?«
»Erst möchte ich die Geschichte zu Ende lesen. Sie sehen doch, dass sie ihr gefällt.«
»Ballaststoffe.«
»Nur dies. Ist Ihnen jemals aufgefallen, dass unter jungen Leute der Sinn für, sagen wir mal, Sozialgeschichte stärker ausgeprägt ist als bei älteren?«
»›Dann beging Billy Nerz eine große Dummheit, er verlor endgültig die Beherrschung und bedachte Reddy Fuchs mit üblen Beschimpfungen. Trotzdem wagte er nicht, sich den Zander zurückzuholen, denn Reddy war viel größer als er. Schließlich rannte er wutschnaubend weg und ließ seinen ganzen Haufen Fische zurück.‹«
»Was möglicherweise daran liegen könnte, dass zusammen mit der Akkumulation persönlicher Erfahrung das Gefühl für Geschichte im Allgemeinen, nicht für die persönliche, schwindet. So erinnern sie sich beispielsweise nicht mehr an große Ereignisse an sich, sondern nur dann, wenn sie sie mit Ereignissen aus ihrem Privatleben in Verbindung bringen – da sie damals nämlich gerade dies oder jenes gemacht oder da oder dort gewesen sind. Et cetera. Et cetera. Historische Fakten werden dadurch zunehmend persönlich eingefärbt. Kommt Ihnen diese Darstellung plausibel vor?«
»›Reddy Fuchs und Little Joe Otter rührten Billy Nerz' Fische nicht an, aber Reddy teilte seinen großen Haufen mit Little Joe Otter. Dann gingen auch sie nach Hause, und Reddy trug stolz seinen großen Zander.‹«
»Ballaststoffe.«
»Nun, was sagen Sie? Ich extrapoliere natürlich nur einige Gedanken, mit denen wir uns bereits beim letzten Mal beschäftigt haben, doch ich denke, diese Art Geschichtsauffassung gilt besonders für die Menschen des Mittleren Westens, die geographisch wie kulturell in einem derart ungesicherten Verhältnis zu anderen, weniger abgeschotteten Staaten stehen, dass jedes objektive Ereignis zunächst den doppelten Filter geographischer Ambivalenz sowie eines höchst subjektiv gefärbten Gedächtnisses passieren muss. Daher auch die extremen Komplikationen, die überall in dieser Einrichtung zu beobachten sind.«
Lenore sah, wie sich hinter Concarnadines roten Lippen und den ebenmäßigen Zähnen ihres Unterkiefers ein klarer Speichelsee gebildet hatte, der mit jedem Atemzug ein bisschen mehr anstieg, bis er in den immer noch hängenden Mundwinkeln glitzerte.
»›Spät am Abend, als er sich etwas beruhigt hatte, wurde Billy Nerz hungrig. Und je mehr er an seinen Fisch dachte, desto hungriger wurde er.‹«
»Was halten Sie davon?«
»Tja, was halte ich davon ...«
»Ballallallallasssss...«
»Ach du liebes Lottchen.«
»Sie hat zu viel Spucke im Mund, das ist alles.« Lenore langte nach den Kleenex auf dem Nachttisch. »Nur etwas zu viel Spucke.«
»Das kann jedem mal passieren.«
»Mr.
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