Der Besen im System
Traum, den Dr. Jay jedoch unbedingt im Umkreis »Reinigungszwang« ansiedeln will, was ich ebenso ablehne wie überhaupt seine Konzentration auf die Psychologie der Hygiene nach Blentner, da er sie selbst von Lenore geklaut und in einem weiteren Schritt ihrer hohen Zahl von Zwangshandlungen hinzugefügt hat. Ich weiß das (und fahre aus diesem Grund auch mit seiner Therapie fort), weil zu seinen Gunsten und trotz überwältigender Anzeichen psychologischer Ahnungslosigkeit gesagt werden muss, dass er ständig gegen das ärztliche Verschwiegenheitsgebot verstößt, weil er nämlich eine elende Plaudertasche ist, die mir haarklein alles erzählt, was Lenore ihm anvertraut. Wirklich alles.
Lenore und ich begegneten uns in Dr. Jays Wartezimmer, nachdem ich scheppernd aus seinem Behandlungszimmer transportiert worden war. Sie saß auf dem anderen Automatikstuhl, in ihrem fließenden weißen Kleid und den verschlissenen Converse-Turnschuhen, den Fuß auf das Knie gelegt, und las. Ich wusste, ich hatte sie schon in der Telefonzentrale der Firma gesehen, hatte sogar am selben Tag meine Zeitung bei ihr abgeholt, trotzdem waren mir die Umstände unseres Zusammentreffens peinlich. Doch Lenore – so typisch für sie, wie ich heute weiß – reagierte völlig ungezwungen, sagte Hallo, nannte mich Mr. Vigorous und gab ihrer Hoffnung Ausdruck, dass wir bald schon etwas zum Veröffentlichen haben würden, sie hätte da so eine »Ahnung«. Und auch, dass sie wegen ihrer Orientierungslosigkeit, ihrer Identitätsprobleme und dem Gefühl, ihr Leben nicht im Griff zu haben, bei Dr. Jay in Behandlung sei, was ich zu einem gewissen Grade nachvollziehbar fand, da ich wusste, dass ihr Vater der Eigentümer von Stonecipheco Baby Products war, einem der wichtigsten und, wenn ich so sagen darf, zugleich übelsten Industriebetriebe von Cleveland. Zumindest konnte ich mir gut vorstellen, welches unterdrückerische Regiment der Alte zu Hause führte. Ich weiß noch, wie im selben Moment ihr Automatikstuhl anfuhr und Lenore auf dem Schienenweg ins Behandlungszimmer von Dr. Jay beförderte, dessen Begeisterung für nutzlose technische Spielereien sicher eine eigene psychologische Untersuchung wert gewesen wäre, und wir verabschiedeten uns. Ich schaute ihr nach (oder vielmehr ihrem Nacken), als sie auf dieser Patienten-Lore in Dr. Jays Geisterbahn verschwand, löste meinen Sicherheitsgurt und trat eigenartig leichten Herzes hinaus in die bräunlich eingefärbte Brise vom See.
Wie es danach weiterging? In meiner Erinnerung sehe ich keine isolierten Ereignisse vor mir, nicht einmal eine richtige Geschichte, sondern eine Art Videoclip, allerdings nichts Rasantes im Stil von The Fighter Gets Ready For The Big Fight, sondern vielmehr etwas Diffuses, Fragiles, das man mit den Worten zusammenfassen könnte: Rick Vigorous bildet sich Schwachheiten ein bei einer Frau, die seine Tochter sein könnte, und geht daran, sich einmal mehr zum Idioten zu machen. Und unterlegt von zartesten Weichzeichnertönen eine geisterhafte Szene: Lenore und ich, die aufeinander zulaufen – in Zeitlupe und durch die gallertartige Masse unserer jeweiligen Hemmungen und psychischen Beschwerden.
Ich sehe mich, wie ich jeden Morgen an der Telefonzentrale meinen Plain Dealer bei Lenore abhole, Lenore, die dabei errötet und wortlos die blöden Bemerkungen von Mandy Mandible und Ms. Prietht, die ich beide verabscheue, über sich ergehen lässt. Ich sehe mich in Dr. Jays Wartezimmer nach Lenore Ausschau halten, doch obwohl sich unsere Termine kein zweites Mal kreuzten, ließ ich mich immer wieder ratternd und ruckelnd von der Patienten-Lore in Dr. Jays Geisterbahn fahren. Ich sehe mich nachts im Bett bei meinem Trostritual, für das zwei Finger dicke reichen, während in meinem Kopf ein Film abläuft, der von einer fließend gewandeten Gestalt mit schwarzen Turnschuhen und einem insektenhaften Pony handelt. Ich sehe mich, wie ich in Dr. Jays Behandlungszimmer herumdruckse, weil ich ihn eigentlich nur über Lenore Beadsman ausfragen möchte, aber dadurch meinen wahren Zustand verraten würde und deshalb lieber den Mund halte und mir erst recht wie ein Idiot vorkomme, was Dr. Jay veranlasst, sich mit seinem parfümierten Taschentuch weise über seinen Walross-Schnurrbart zu streichen und meine Beklommenheit als Symptom eines bevorstehenden »Durchbruchs« zu werten. Er gibt mir daher den dringenden Rat, die Zahl der wöchentlichen Sitzungen zu verdoppeln.
Ich sehe mich, wie ich
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