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Der Besen im System

Titel: Der Besen im System Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Foster Wallace
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mich die Neugier fast verrückt macht.
    Ich äußerte mein Unverständnis angesichts ihres Gefühls von Machtlosigkeit. Mussten wir uns nicht alle damit abfinden, dass bestimmte Bereiche des Lebens unserer Kontrolle entzogen waren? Und gehörte es nicht zum Leben selbst, dass andere Menschen auch andere Interessen verfolgten? Ich stand kurz davor, mich einzunässen.
    Nein, darum ging es nicht. Ein solches allgemeines Gefühl der Entfremdung war nicht das Problem. Das Problem war vielmehr höchst konkret, war die Ahnung, dass alle ihre persönlichen Wahrnehmungen, Wünsche und Handlungen nicht mehr ihrer persönlichen Kontrolle unterlagen.
    Was meinte sie mit »Kontrolle«?
    Wer wusste das schon?
    War es etwas Religiöses? Vielleicht eine Krise ihres eigenen Determinismus? Ich hatte mal einen Freund, der hatte auch so ein ...
    Nein. Das mit dem Determinismus ging, solange sie nur spürte, dass das, was sie, Lenore, determinierte, etwas Unpersönliches, sozusagen Objektives war und sie, Lenore, nichts weiter als ein Rädchen in einem großen Getriebe. Aber so, wie die Dinge standen, fühlte sie sich benutzt, meinetwegen auch missbraucht.
    Missbraucht?
    Ja. Als ob alles, was sie sah, empfand und dachte, einer fremden Absicht folgte ... eine Funktion hatte, die sie nicht begriff.
    Fremde Absicht? Funktion. Die Alarmglocken schrillten. Also doch: Dr. Jay. Sie meinte eine Verschwörung?
    Nein, keine Verschwörung, sie hatte sich wohl nicht klar genug ausgedrückt. Ihre Haarspitzen schwangen wie Pendel unter ihrem Kinn, als sie den Kopf schüttelte. Dummerweise war meine Serviette unter den Tisch gefallen. Wie ungeschickt von mir. Ihre Beine waren da, aber hatten sich weit unter ihren eigenen Stuhl zurückgezogen und umeinander geschlungen. Alarmglocken oder nicht, ich wollte als Erstes nach ihren Fußgelenken greifen und dann pinkeln.
    Nein, sie hatte nur manchmal den Eindruck, also nicht immer, aber in bestimmten, ganz konkreten, überwachen Momenten, als habe sie außerhalb dessen, was sie sagte, tat und empfand, kein eigenes Leben, weil nämlich genau das nicht mehr ihrer Kontrolle unterlag. Glaubte sie jedenfalls in diesen Momenten. Und dass es nichts gab, das wirklich rein war.
    Hmmm.
    Könnten wir vielleicht von etwas anderem reden? Weswegen war ich bei Dr. Jay?
    Oh, nur wegen ein bisschen Traumarbeit, allgemeiner Seelenkram. Ich interessierte mich für die Psycho-Szene, doch meine eigenen psychischen Problem lagen unter der Geringfügigkeitsgrenze und waren in jenem Moment nicht der Rede wert. Ich ging eigentlich nur zu Jay, weil ich ihn von vielen [vielen] Therapeuten in Cleveland am wenigsten leiden konnte. Ich fand, dieser Antagonismus gab mir etwas. Und Lenore? Nein, Lenore war von ihrem Hausarzt an Dr. Jay überwiesen worden, einem Freund der Familie und uralten Bekannten ihrer Urgroßmutter, welchen sie erstmals wegen ihres chronischen Nasenblutens aufgesucht hatte. Seitdem war sie bei Dr. Jay. Sie fand ihn faszinierend, auch wenn er ihr auf die Nerven ging. Fand ich ihn auch faszinierend? Ehrlich gesagt, ich ging nur wegen seiner Automatikstühle zu ihm. Ich fand, die automatischen Stühle machten richtig Spaß. Mal was anderes.
    Die Stühle. Sie liebte das metallische Geräusch, wenn die Kette sich spannte und sie, Lenore, mit dem Stuhl in Dr. Jays Allerheiligstes beförderte. [Langsam, langsam, lass sie reden.] Einmal war sie mit ihrer Schwester Clarice auf der State Fair in Columbus, und sie hatten sich im Spiegelkabinett verlaufen, und Clarice war die Handtasche geklaut worden von einem Mann, der so getan hatte, als sei er nur ein Spiegelbild – bis eben zum letzten Moment. Richtig gespenstisch war das gewesen.
    Was macht eigentlich ihre Mutter?
    Sie lebte mittlerweile in Wisconsin.
    Waren ihre Eltern geschieden?
    Nicht direkt. Ob wir gehen konnten? Sie musste am Morgen pünktlich zur Arbeit erscheinen, um mir meine Zeitung zu geben. Plötzlich war es sehr spät. Hatte sie schon etwas gegessen, wollte sie vielleicht etwas zu essen? Gingerale machte erstaunlich satt. Außerdem war ihr Wagen in der Werkstatt, irgendwas am Choke. Sie hatte an diesem Tag den Bus genommen. Okay, dann. Sie besaß eines dieser neuen Autos von Mattel, bekanntermaßen auch der Hersteller von Hot Wheels. Das Auto war nur unwesentlich größer als diese. Also mehr Spielzeug als Auto. Und so weiter.
    Ich sehe uns die verrückte Strecke auf dem Inneren Ring der I-271 entlangfahren, Richtung East Corinth. Ich sehe Lenore, die neben

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