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Der Besen im System

Titel: Der Besen im System Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Foster Wallace
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zunehmend die Lust verliere an allem, was nicht Lenore ist. Ich bin unfähig, mich auf meine nicht vorhandene Arbeit zu konzentrieren, unfähig aber auch, meine durchaus vorhandene Arbeit an der Review fortzusetzen. Ich sehe mich, wie ich mich eines Tages wie ein kleiner Junge hinter einer der Marmorsäulen in der Eingangshalle des Bombardini Building verstecke, wo die Schatten des Erieview Towers bereits ihren Rachen öffnen, und warte, dass sich die Blasenschwäche von Judith Prietht endlich wieder meldet. Ich sehe mich, als die Prietht endlich weg ist, auf Lenore Beadsman in ihrer klaustrophobischen Zelle zugehen. Ich sehe Lenore, die mir zulächelt. Ich sehe mich, wie ich das Thema Wetter gnadenlos erschöpfe, ehe ich den Mut aufbringe, sie zu fragen, ob ich sie nach der Arbeit zu einem Drink einladen darf. Ich sehe eine der wenigen Gelegenheiten, an denen das Wort »perplex« wirklich angebracht ist. Ich sehe eine plötzlich perplexe Lenore.
    »Ich trinke eigentlich nicht«, sagte sie nach einem Moment des Zögerns und schaute wieder in ihr Buch.
    Mir wurde ganz flau. »Das heißt, du nimmst überhaupt keine Flüssigkeit zu dir?«, fragte ich.
    Lenore hob den Blick und lächelte vorsichtig. Ihre feuchten Mundwinkel zeigten auf einmal nach oben. Wirklich, das taten sie. Ich aber widerstand der Versuchung, gleich hier in der Eingangshalle in mein Verderben zu rennen. »Doch, ich nehme Flüssigkeit zu mir«, sagte sie einen Moment später.
    »Wunderbar. Und welche Art Flüssigkeit bevorzugst du?«
    »Gingerale hielt ich immer für eine besonders gute Flüssigkeit«, sagte sie lachend. Dann lachten wir alle beide, und ich bekam eine heftige und schmerzhafte Erektion, die jedoch dank meiner physischen Beschaffenheit nicht einmal ansatzweise peinlich wirkte.
    »Ich kenne einen Laden, wo sie Gingerale in dünnen Gläsern und mit kleinen Strohhalmen servieren«, sagte ich und meinte eine Bar.
    »Klingt super.«
    »Gut.«
    Ich sehe uns in einer Bar, ich höre ein Klavier, das ich in der Situation nicht gehört habe, fühle mich nach einem halben Glas Canadian Club mit Wasser bereits angetrunken, muss urinieren und gleich nach meiner Rückkehr ein weiteres Mal. Ich sehe, wie sich Lenores Lippen mit einer Grazie um den dünnen kurzen Strohhalm schließen, die mir Schauer durch die Beinmuskeln jagte. Wir waren füreinander geschaffen. Ich sehe mich und Lenore, die mir in unbewussten Momenten ihr ganzes Leben erzählt, ein Leben, das sie, wie ich heute weiß, nicht als ihr eigenes betrachtete.
    Lenore hatte noch eine Schwester und zwei Brüder. Ihre Schwester war mit einem aufstrebenden Stonecipheco-Manager verheiratet und hatte irgendwie mit der Sonnenstudio-Industrie zu tun. Ein Bruder lehrte an der Universität von Chicago und war häufig krank. Der andere Bruder hatte bald sein erstes Jahr am Amherst College hinter sich. Amherst College in Amherst, Massachusetts. [Ich füge hinzu: Ich, Rick Vigorous, war ebenfalls in Amherst.] Was für ein Zufall, sagte ich, ich war ebenfalls in Amherst. Ist ja irre, sagte Lenore. Ich erinnere mich, wie ihr Insektenunterkiefer aus Haaren den Strohhalm streichelte, während sie das Gingerale aus dem mattierten Glas sog. Ja, sagte sie, ihr Bruder war in Amherst gewesen, ihr Vater war in Amherst gewesen, ihre Schwester in Mount Holyoke, nur ein paar Meilen weiter [wie gut ich das wusste!], ihr Urgroßvater war in Amherst gewesen, ihre Großmutter und ihre Urgroßmutter in Mount Holyoke, ihre Urgroßmutter dazu noch in Cambridge, in den Zwanzigerjahren, wo sie bei Wittgenstein studiert hatte, sie hatte sogar noch ihre Notizen aus der Zeit.
    Welcher ihrer Brüder war jetzt in Amherst?
    Ihr Bruder LaVache.
    Und wo hatte ihr anderer Bruder studiert? Wie hieß ihr anderer Bruder? Wollte sie noch ein Gingerale, noch eines mit so einem kleinen Strohhalm?
    Ja, danke, das wäre nett, und er hieß John, und ihr anderer Bruder hieß in Wirklichkeit Stonecipher, nannte sich aber LaVache, das war sein zweiter Vorname, nach dem Mädchennamen ihrer Mutter. John, der Älteste, war streng genommen nie aufs College gegangen, besaß aber einen Doktor phil. von der Universität Chicago, weil ihm noch auf der Junior Highschool ein bis dahin unmöglicher Beweis gelungen war, angefertigt mit einem von Lenores Buntstiften auf einem Batman-Zeichenblock, worüber sie alle so platt gewesen waren, dass sie ihm nur wenige Jahre später den Doktor phil. verliehen hatten, auch wenn er nie einen Seminarraum von innen

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