Der Besen im System
paar Gedanken, mehr oder weniger unzusammenhängend et cetera. Trotzdem eine interessante Sache. Das wollte ich eigentlich schon immer.«
»Und? Darf ich es lesen?«
»Auf gar keinen Fall. Ein Tagebuch ist per definitionem etwas, was niemand sonst lesen darf.«
»Wahrscheinlich. Dann aber bitte eine Geschichte.«
»Heute ist eine ganz interessante hereingekommen.«
»Prima.«
»Aber auch traurig. Weiß du, woher all die traurigen Geschichten heutzutage kommen? Von Kids. Von Kids auf dem College. Manchmal frage ich mich, was eigentlich mit der amerikanischen Jugend los ist. Zum einen sind unheimlich viele von ihnen an Schriftstellerei interessiert. Und das meine ich wörtlich: unheimlich viele. Und zweitens ist interessiert noch untertrieben. Von Leuten, die bloß interessiert sind, bekommt man nicht solche Geschichten. Traurige Geschichten, sage ich dir. Wo sind eigentlich all die lustigen Geschichten geblieben? Oder eine wie auch immer geartete Moral der Geschichten? Du glaubst gar nicht, wie gern ich mittlerweile eines dieser Post-Salinger-Wohlfühlbücher bekommen würde, die uns hei Hunt & Peck zu Tausenden angeboten wurden. Ehrlich, ich mache mir Sorgen um die Jugend von heute. Die jungen Leute sollten Bier trinken oder ins Kino gehen, Panty-Raids veranstalten, sollten ihr erstes Mal haben und tanzen gehen, nicht diese langen, traurigen, komplizierten Geschichten schreiben. Außerdem können sie in der Regel nicht Schreibmaschine schreiben. Sie sollten sich amüsieren und Schreibmaschine lernen. Aber so? Das macht mir richtig Sorgen.«
»Also lass hören.«
»Ein Mann und eine Frau begegnen sich in einer Gruppentherapie und verlieben sich. Der Mann sieht gut aus und hat ein energisches Kinn und ist eigentlich ganz nett, wäre da nicht das Problem mit seinen unglaublichen Tobsuchtsanfällen. Dann hat er sich und seine Emotionen überhaupt nicht mehr im Griff und kann unheimlich wütend werden. Die Frau ist sympathisch und netter, als man sich vorstellen kann, aber sie leidet unter schrecklichen Depressionen, gegen die sie nichts tun kann außer essen und schlafen. Dann stopft sie sich mit Fritos und Hostess-Schokotörtchen voll und schläft viel zu viel und wiegt irgendwann auch viel zu viel, obwohl sie immer noch sehr bübsch ist.«
»Tu mal bitte deinen Arm woanders hin.«
»Die beiden begegnen sich also in dieser Gruppentherapie, verlieben sich unsterblich ineinander und himmeln sich jede Woche in ihrem Therapiekreis an, der übrigens von einem sehr freundlichen und lockeren Therapeuten in einem Poncho geleitet wird. Dieser Psychologe, musst du wissen (und erfährst du auch durch den allwissenden Erzähler), ist allerdings längst nicht so nett und mitfühlend, wie er scheint, sondern im Gegenteil der Schurke in der Geschichte, ein Mensch, der bei der Graduiertenprüfung am College einen Nervenzusammenbruch erlitt, aus diesem Grund schlecht abgeschnitten hat und deshalb nicht nach Harvard konnte, sondern nur an die Universität New York, wo weitere schlechte Erfahrungen und Nervenzusammenbrüche folgten, wofür er der Stadt die Schuld gibt, der Stadt und überhaupt der urbanen Lebensweise, welche er im psychopathologischen Sinne hasst und deshalb die städtische Gesellschaft mit ihren Gruppenzwängen auch als ursächlich für so ziemlich jedes Problem seiner Patienten betrachtet. Mit subtilem Druck bringt er sie anschließend dazu, die Stadtluft aufzugeben, um stattdessen in eine abgelegene Hütte in den Wäldern jenes Staates zu ziehen, in dem die Geschichte spielt, ich vermute mal New Jersey, und ganz zufällig gehören ihm die Hütten, die er an die Patienten verkauft, weswegen es nicht unbillig wäre, diese Art Therapie als dreiste Abzocke zu bezeichnen.«
»...«
»Aber erst einmal verlieben sich der Mann und die Frau unsterblich ineinander und kommen also zusammen, und auf wundersame Weise werden die Tobsuchtsanfälle des Mannes immer seltener, ebenso wie die Depressionen der Frau, weswegen sie auch nicht mehr ganze Tage schlafend im Bett verbringt und auch kein Junkfood mehr in sich hineinstopft und mit der Zeit sogar abnimmt und so unglaublich hübsch wird, dass einem die Tränen kommen. Sie wollen heiraten, und das sagen sie auch dem Psychologen, der sich mit ihnen und für sie freut, wie er sagt, aber sie zugleich warnt, dass ihre jeweiligen psychischen Störungen durch ihre akute Verliebtheit lediglich kaschiert würden und dass sie, falls sie eine dauerhafte Heilung anstrebten und sich
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