Der Besen im System
Anfall, sodass nun beide Kindern gleichzeitig einen Anfall haben und das kleine, abgeschiedene Waldkrankenhaus in ein Irrenhaus verwandeln. Aber der alte freundliche Landarzt hat alles schnell unter Kontrolle. Er untersucht die beiden Kinder und diagnostiziert bei ihnen ein ausgesprochen seltenes neurologisches Leiden, bei dem aus irgendeinem Grund Nervenzellen absterben, sobald die Kinder weinen, und das im Herz und im Gehirn immer wieder Entzündungen und Blutungen auslösen kann. Da Kinder nun einmal zum Weinen neigten, sei der weitere Prozess praktisch vorprogrammiert, denn jeder neue Anfall sei schlimmer als der vohergehende und richte schwer wiegende, irgendwann sogar lebensbedrohliche Schäden an, vor allem bei dem Älteren, bei dem sich die Erkrankung in einem fortgeschrittenen Stadium befinde – es sei denn, es gelinge, den Auslöser der Anfälle, das Weinen eben, konsequent auszuschalten.«
»Wow!«
»Und da es ein so unzumutbar weiter Weg ist von ihrer abgeschiedenen Hütte zum Waldkrankenhaus, gibt der freundliche alte Landarzt dem Mann und der Frau zirka einhundert kleine Fläschchen mit, gefüllt mit einer speziellen, sehr seltenen und nur aufwändig herzustellenden Antiwein-Medizin, die, subakut verabreicht, also kurz vor einem Anfall, zuverlässig helfen soll, das Weinen im Keim zu ersticken und den epileptischen Anfall zu verhindern, was die Eltern einerseits sehr deprimiert, andererseits aber auch erleichtert, denn auf diese Weise erscheint die Krankheit zumindest behandelbar. Allerdings melden sich im weiteren Verlauf die eigenen psychischen Probleme verstärkt zurück. Der Mann hadert mit dem ganzen Universum, weil seine Kinder unter epileptischen Anfällen leiden, sobald sie auch nur die kleinste Träne vergießen, und nicht zuletzt mit dem unweigerlich exorbitanten Preis für das spezielle, nur aufwändig herzustellende Antiwein-Medikament, und zu allem Überfluss gähnt die Frau immer öfter, was nichts Gutes bedeutet. Schon auf der Rückfahrt müssen sie in dem kleinen Waldgeschäft anhalten, wo die Frau praktisch alles kauft, was der Laden an Junkfood hergibt, worüber sich der Mann ärgert, weil sie eh so viel zugenommen hat, obwohl sie immer noch sehr hübsch ist, und darüber, dass der Mann wütend ist, wird die Frau immer trauriger und schläfriger und so weiter und so fort, du siehst, ein echter Treufelskreis.«
»Möchtest du etwas Gingerale?«
»Gern.«
»...«
»Sie fahren also zurück zu ihrer Hütte, und alles ist mehr oder weniger wie vorher, nur dass die Frau jetzt halbe Tage verschläft und rasant zunimmt. Der Mann hingegen ist so wütend über die exorbitanten Kosten für das Antiwein-Medikament, dass er schwört, sich zusammenzureißen und besonders nett zu seinen beiden Kindern zu sein, damit sie möglichst wenig weinen. Durch diesen Zwang steigt sein innerer Druck weiter, bis er sich nicht anders zu helfen weiß, als tief in den Wald zu laufen, um seine Wut herauszubrüllen und mit den Fäusten auf die Bäume einzuprügeln. Natürlich bekommt auch seine nette, traurige Frau seine Verbitterung zu spüren, vor allem nachts, wenn die Kinder schlafen, in ihren Bettchen auf der anderen Seite der winzigen Hütte, macht er ihr Vorhaltungen über ihr zunehmendes Gewicht, wodurch die Frau noch melancholischer, schläfriger und hungriger wird und bald ihr alltes, das heißt Vor-Verliebtheits-Gewicht wieder erreicht hat. So zieht sich das etwa ein Jahr lang hin, ein Jahr, in dem sich die zum Teil heftigen Weinanfälle der Kinder, vor allem des älteren, nur durch die rechtzeitige Gabe des Antiwein-Medikaments verhindern lassen.«
»Ich gebe zu, ich bin gefesselt.«
»Eines schicksalhaften Abends, eines Abends, an dem der Erzähler die Wettersymbolik voll aufdreht, sprich Blitz und Donner, heulender Sturmwind und dicker, geradezu gelatinöser Regen über die kleine Hütte niedergeht, eines Abends, als die Familie beim Essen sitzt und die Frau sich den Teller bis obenhin mit Hostess-Schokotörtchen voll geladen hat und in einem fort gähnt, sodass der Mann nur mit Mühe an sich halten kann, so wütend ist er, an diesem Abend will das ältere der beide Kinder, inzwischen sieben lahre alt, sein Teilerchen nicht leer essen und greint über die Erbsen, die tiefgefroren auf den Tisch gekommen sind, weil die Frau nämlich viel zu matt und satt zum Kochen war, worauf dem Mann endgültig der Kragen platzt, sodass er dem Kind spontan, aber eigentlich ungewollt eine knallt, wodurch das
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