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Der Besen im System

Titel: Der Besen im System Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Foster Wallace
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fände, der Mann nimmt trotzdem die nächste U-Bahn zur Praxis des Liebestherapeuten. In der U-Bahn sitzen drei oder vier Frauen, von denen drei halbwegs attraktiv sind und in die er sich schlagartig und nacheinander verliebt und dafür wie üblich geohrfeigt, ausgelacht oder lautlos angeschrien wird. Schließlich fällt sein Blick auf die vierte Frau, eine ausgesprochen dicke Frau mit fettigem Haar, Brillengläsern so dick wie Flaschenböden und einem fliehenden, flachen Kinn, das sogar noch flacher ist als meines. Die vierte Frau sieht also verboten hässlich aus, sogar in den Augen des Mannes, darüber hinaus ist sie beinahe unsichtbar, denn sie hat sich tief in den dunklen, hinteren Teil des Wagens gedrückt, den Mantelkragen hochgeschlagen und trägt außerdem einen dicken Schal, in dem sie beinahe versinkt. Hab ich erwähnt, dass es erst März ist in New York?«
    »Nein.«
    »Es ist jedenfalls März, und sie trägt einen Schal und versteckt sich im Schatten, die Wange an die mit Graffiti übersäte Wand des U-Bahn-Wagens gedrückt, die Hand um eine alte Thermoskanne gekrallt, die aus ihrer Manteltasche ragt. Kurz, sie sieht aus wie eine dieser typischen Verstörten, um die man automatisch einen Bogen macht, obwohl ihr Anblick an sich in New York nicht gerade ungewöhnlich ist.«
    »Da sagst du was.«
    »Hinzu kommt, dass die Frau mit den fettigen Haaren und der Thermoskanne die Annäherungsversuche des Mannes heimlich beobachtet hat, sich dabei aber immer im Schatten hält, sodass sie, als sie den Blick des Mannes schließlich auch auf sich spürt, die Nerven verliert und so schnell wie möglich zur Tür flüchtet, was allerdings nicht so furchtbar schnell ist, da, wie wir jetzt erfahren, das eine Bein nur etwa halb so lang ist wie das andere. Gleichwohl, sie tut ihr Bestes, und die U-Bahn fährt auch gerade in eine Station ein, und die Türen gehen auf, und sie flieht. Doch dabei verliert sie die alte Thermoskanne aus ihrer Manteltasche, und die Thermoskanne rollt über den Bahnsteig und schließlich gegen den Schuh des Mannes, und der Mann hebt die Thermoskanne auf, ein altes Ding aus schwarzem Blech. Auf dem Boden der Thermoskanne ist, auf einem Streifen Klebeband, mit winziger, fast verblasster Schrift eine Anschrift in Brooklyn notiert, die wir als die ihre annehmen. Der Mann beschließt, ihr die Thermoskanne zurückzugeben, zumal er sich die Schuld dafür gibt, dass sie die Thermoskanne überhaupt verloren hat. Zufällig befindet sich auch die Praxis des Liebestherapeuten ganz in der Nähe.
    Kurze Zeit später steht der Mann in der Praxis des Liebestherapeuten, der übrigens eine Liebestherapeutin ist und normalerweise keinen Termin frei gehabt hätte, weil sie als Liebestherapeutin offenbar einen ziemlich guten Ruf hat und entsprechend ausgebucht ist, doch verliebt sich der Mann sofort in die rasend attraktive Sprechstundenhilfe und rezitiert vor ihr unwillkürlich alle möglichen Liebesgedichte, bis er ohnmächtig auf dem Teppichboden des Vorzimmers zusammenbricht. Die Sprechstundenhilfe läuft los und berichtet der Liebestherapeutin, was passiert ist und dass es sich offenbar um einen Notfall handelt, der sofort ihrer Hilfe bedarf, draußen im Vorzimmer auf dem Teppichboden. Und so lässt die Liebestherapeutin ihre Mittagspause ausfallen, in die sie gerade gehen wollte, und gemeinsam heben sie den Mann auf und bringen ihn mit etwas kaltem Wasser ins Sein zurück, wo er sofort einen Termin kriegt.
    Ein Grund, warum die Liebestherapeutin so toll ist, liegt darin, dass sie bereits in der ersten Sitzung den Kern eines jeden Liebesproblems freilegen kann, statt dem Patienten eine teure Sitzung nach der anderen zu verordnen, lediglich mittels einiger vager Versprechungen hinsichtlich eines bevorstehenden Durchbruchs, was wir beide, glaube ich, mittlerweile zu schätzen wissen. Und so legt also die Liebestherapeutin den Kern seines Liebesproblems frei und teilt dem Mann völlig überraschend mit, nicht die Stärke seiner Liebesreaktion sei das eigentliche Problem, sondern eher ein Defizit in einem anderen liebesrelevanten Bereich, da echte Liebe nun einmal darauf beruhe, Unterschiede zu machen, wenn es um das Objekt der Liebe geht, wozu der Mann aber nicht in der Lage sei, siehe seine Liebesschwüre vor der ihm unbekannten Sprechstundenhilfe. Erforderlich sei nun, so die Liebestherapeutin, eine Stärkung seiner Unterscheidungsfähigkeit, was etwa dadurch geschehen könne, sich möglichst oft unter Frauen

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