Der bessere Mensch
wer Doktor?“ eher für Ersteres gehalten worden. Wirklich schlau war er nicht aus ihm geworden. Er wirkte aufrichtig, das schon. Aber auf irgendeine Weise war er in den Fall verstrickt, zu viele Fäden, die bei ihm zusammenliefen; und auch wenn er nicht gelogen hatte, war sich Schäfer sicher, dass er ihm zumindest etwas verheimlicht hatte.
„Über die Einnahme wissen Sie Bescheid?“, holte ihn die Apothekerin forsch aus seinen Gedanken.
„Ja, zwei am Morgen mit einer Tasse Wodka.“ Diese fortwährende Bevormundung ging ihm auf die Nerven, er war doch kein Methadon-Lurch, der sich zitternd und unter den gestrengen Blicken der Pharmazeutin seine Substitute hinunterspülte.
„Und auf zwanzig“, erwiderte die Frau emotionslos, „die Rechnung?“
Schäfer spazierte durch die Judengasse, schaute in ein paar Auslagen, kaufte sich an einem Kiosk eine überteuerte Flasche Mineralwasser und setzte sich damit an den Rand der Pferdeschwemme. Er drückte jeweils eine Tablette aus den Blisterstreifen und schluckte sie. Schon wieder musste er daran denken, wie gut ihm jetzt eine Zigarette täte. Als sein Blick suchend über das Kopfsteinpflaster zu gleiten begann, nahm er das Handy heraus und rief Kovacs an. Ob es irgendwas Neues gäbe und warum er dann keine regelmäßigen Updates erhielte. Ohne auf seine schnippische Art einzugehen, gab sie ihm die jüngsten Ermittlungsergebnisse weiter. Alles, was sie und Schreyer in Bezug auf Bienenfeld gefunden hatten, sei bereits am Vormittag in einem E-Mail an ihn gegangen. Wichtig in diesem Zusammenhang sei vielleicht, dass Borns Vater, der SS -Scherge, verantwortlich für die Deportation der Familie Bienenfeld gewesen war, und damit auch für die Internierung der Kinder auf dem Spiegelgrund. Der Schulpsychologe, der Kastor betreut hatte, sei in Pension und wohne jetzt in Innsbruck. Außerdem hätten sie die Liste der Personen, die Kastor während seiner U-Haft besucht hatten, durchgesehen. Dabei seien sie auf eine Frau namens Anke Gerngross gestoßen. Und, wer ist das?, fragte Schäfer barsch, neidisch, wie rasch die Ermittlungen seiner Wiener Kollegen voranschritten. So weit seien sie noch nicht, gestand Kovacs ein, was ihren Vorgesetzten besänftigte, der versprach, das E-Mail so bald wie möglich anzusehen und sich am Abend wieder zu melden. Ob es denn bei ihm etwas Neues gebe, wollte Kovacs abschließend wissen. Hofer, immer wieder Hofer, antwortete Schäfer ausweichend, nein, nichts, das sie irgendwie weiterbrächte.
Er nahm ein Stofftaschentuch aus seiner Jacketttasche, wischte sich damit den Staub von den Schuhen und ging zur Mönchsberggarage, um den Laptop aus dem Wagen zu holen. Bergmann hatte ihm erst zwei Wochen zuvor angeboten, ihm sein Handy so einzustellen, dass er damit E-Mails empfangen und Dokumente via Bluetooth auf den Computer überspielen konnte. Wozu das denn, hatte Schäfer geantwortet und nahm sich nun fest vor, diese technische Revolution demnächst anzugehen. So saß er wenig später abermals in einem geschmacklosen Bistro mit WLAN , bestellte das Tagesgericht und rief seine E-Mails ab. Nach der Menge an Anhängen zu urteilen, die Kovacs gesandt hatte, musste die Gruppe ihr Privatleben auf Nahrungsaufnahme und -ausscheidung beschränkt haben. Schäfer überflog die Dokumente, speicherte sie ab und öffnete dann ein PDF mit dem Titel „Bienenfeld-Biografie“. Danke, Bergmann, murmelte Schäfer, als er die erste Seite sah, die eindeutig die übersichtliche Formatierung seines Assistenten trug. Große Schrift, reichlich Absätze, Fettschrift, wo wichtige Informationen standen, dazu in Klammern gesetzte Links, wenn der Leser sich über das Dargebotene hinaus informieren wollte. Und bei den Fachbegriffen hatte Bergmann bestimmt extra für ihn auf Medizin für Dummies zurückgegriffen.
Bienenfeld war 1938 in Wien geboren worden. 1941 deportierten die Nazis unter Leitung des SS -Standartenführers Hans Born seine Eltern ins Konzentrationslager Ebensee, wo sie noch im selben Jahr ermordet wurden. Der zweijährige Max kam gemeinsam mit seiner drei Jahre älteren Schwester Sarah in die Klinik am Spiegelgrund, wo die Kinder den Experimenten der Nazis ausgesetzt waren: Elektroschocks, Injektionen verschiedener Virenstämme und diverser Gifte. Sarah starb 1943 an Typhus, Max überlebte und wurde nach Kriegsende von Verwandten in den Vereinigten Staaten aufgenommen. 1960 zog er nach Boston, um Medizin und Psychologie zu studieren. Nach seinem Abschluss war er
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