Der bessere Mensch
Therapeuten anrufen, Sie kontaktieren mich sofort, wenn es Ihnen nicht gut geht, Herr Schäfer, hatte dieser ihn wiederholt ermahnt, rund um die Uhr. Schäfer nahm sein Handy, drückte sich durchs Adressbuch und rief schließlich Gernot Hofer an, der diesmal sogar abhob.
Zu Schäfers Überraschung erklärte sich Hofer bereit, ihn noch am selben Nachmittag zu empfangen, in seiner Wohnung in der Altstadt. Er habe nur eine gute Stunde Zeit, aber einem Kollegen von Oberstleutnant Schranz stehe er natürlich jederzeit gerne zur Verfügung, am besten der Major parke in der Mönchsberggarage und ginge dann zu Fuß weiter, in die Pfeifergasse wären das nur gut zehn Minuten.
Schäfer bedankte sich und legte auf. In einer Stunde. Und bis dahin? Er neigte seinen Kopf und roch an seinen Achseln. Nein, duschen musste er noch nicht. Er ließ den Motor an, drehte das Radio auf und rollte vom Parkplatz. An der Ausfahrt nahm er die Landstraße stadtauswärts. Eine halbe Stunde ziellos und ohne viel Verkehr dahinkutschieren, sich vom Motorengeräusch und der vorbeiziehenden Landschaft einlullen lassen, das würde ihn beruhigen, bei Babys funktionierte das schließlich auch.
Um viertel vor drei war er in der Pfeifergasse und spazierte vor dem Haus auf und ab, in dem Hofer wohnte. So um drei hatte der gemeint; also wäre er sicher nicht verärgert, wenn Schäfer früher auftauchte. Doch diese Psychiater und Psychologen und Psychotherapeuten mussten ja immer alles interpretierten, und ganze fünfzehn Minuten zu früh, das sah vielleicht nach … nach Ungeduld oder nach einer bestimmten Polizeimethode oder was auch immer aus. Um fünf vor drei läutete Schäfer und nahm die Stiegen ins Dachgeschoss. Hofer sah anders aus, als Schäfer ihn von den paar Bildern aus dem Internet kannte. Gar nicht der weiße Gott, vielmehr ein flügelgestutzter Engel nach einer Vierundzwanzig-Stunden-Schicht in der Unfallaufnahme, blass, schwach, rote Äderchen in den Augen.
„Major Schäfer, angenehm … kommen Sie herein … sollen wir uns auf die Terrasse setzen oder lieber drinnen?“
„Ganz wie Sie wollen … wenn Sie einen Sonnenschirm haben, können wir gerne hinausgehen …“
„Natürlich, ist sogar schon aufgespannt … gehen Sie schon mal vor … da vorne durchs Arbeitszimmer und dann links … ich hole uns etwas zu trinken … Saft, Wasser, ein Bier?“
„Am liebsten Wasser, danke.“
Schäfer widerstand dem Drang, die auf dem Schreibtisch des Arztes liegenden Dokumente zu überfliegen, und ging direkt auf die Glasschiebetür zu. Das war die Terrasse eines der führenden Neurologen Österreichs? Keine zehn Quadratmeter, verwitterte Waschbetonplatten, zwei dieser Achtzigerjahre-Stühle mit Wäscheleinenbezug, ein Werbesonnenschirm einer Brauerei, Aussicht auf das Nachbarhaus und, wenn man sich selbstmörderisch vorbeugte, ein Stück der Domkuppel.
„Bescheiden, ich weiß“, schien Hofer die Gedanken seines Gastes erraten zu haben, als er mit einem Krug und zwei Gläsern auf die Terrasse trat, „aber bei diesen Mietpreisen, und wenn man ohnehin so selten zu Hause ist, wäre was Größeres ein unnötiger Luxus, oder?“
„Bescheidenheit ist nicht die Schlechteste der Tugenden“, erwiderte Schäfer, nahm sein Glas entgegen und setzte sich.
„Richtig, richtig … also, Herr Major, in medias res …“
„… non secus ac notas auditorem rapit …“
„Oha, Sie haben den Horaz aber gut gelernt … ein Steckenpferd?“
„Nicht wirklich, Lateinlehrer mit Vollglatze und Totschlägerblick, Spitzname Colonel Kurtz …“
„Ich verstehe“, meinte Hofer lächelnd, „also, womit kann ich Ihnen weiterhelfen?“
„Ich ermittle im Fall Hermann Born … der Name sagt Ihnen was?“
„Dieser Politiker … der kürzlich ermordet worden ist … ja, ich habe davon gehört.“
„Haben Sie ihn gekannt?“
„Nein … wir sind uns wohl ein paarmal flüchtig begegnet … zu bestimmten Anlässen lässt sich das manchmal nicht vermeiden … beim Opernball oder während der Festspiele …“
„Das klingt nicht nach Sympathie …“
„Sie sind offensichtlich ein gebildeter Mann, Herr Schäfer. Also reden wir bitte nicht um den heißen Brei herum. Mein Vater war eine der abscheulichsten Figuren der Nazizeit, das wissen Sie bestimmt … Borns Vater war Standartenführer bei der SS und nach dem Krieg sind die beiden am selben Stammtisch gesessen und haben von glorreichen Zeiten gegrölt, ohne dass ihnen irgendwer den Prozess gemacht hätte
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