Der bessere Mensch
die nun freie Bank. Scheiße noch mal … nichts täte er lieber, als mit einer Tasse Kaffee hier in der Sonne zu sitzen und so lange in die Gegend zu starren, bis sein Hirn so leer und bedeutungslos wäre wie das leere Vogelfutternetz, das vor ihm an einer Lärche im Wind schaukelte. Unergründlich sind deine Wege, murmelte er und machte sich auf den Weg zur Bergstation.
Wieder im Taxi, auf dem Weg Richtung Salzburg. Schäfer rief seinen Bruder an.
„Servus, ich bin’s … du, ich brauche einen Neurologen, der schweigen kann …“
„Der ist sowieso an die ärztliche Schweigepflicht gebunden …“
„Wieso … nein, es geht um ein paar Unterlagen, die sich ein Fachmann durchsehen soll … die sind allerdings auf Englisch …“
„Das dürfte das geringste Problem sein … lass mich nachdenken … ich schau in meinem Adressbuch nach und gebe dir dann Bescheid …“
„Danke.“
Er nahm den Apfel, den Frau Bienenfeld ihm geschenkt hatte, und verschlang ihn in drei Bissen. Abermals ging ihm ihr Gespräch durch den Kopf. Was sie über den Markt erzählt hatte. Dass man eine Frau nach etwas fragt, das sie gar nicht hat. Aber irgendwie wird es einem dann auf verschlungenen Wegen zugetragen. Die Frau sollte wohl für ein Sinnesorgan stehen; der Markt für die geheimnisvollen Tiefen des Gehirns; der Junge für irgendwelche Nerven oder Botenstoffe, die sich zur Ausgabestelle durchschlugen. Doch das war es nicht, was Schäfer plötzlich an diesem Gleichnis interessierte. Sondern die Frau am Eingang dieses Labyrinths. Konnte natürlich auch ein Zufall sein, dass Bienenfeld damals in Bangkok und vierzig Jahre später seine Witwe von einer Frau gesprochen hatten … gleichzeitig hatte es aber auch eine andere Qualität, als einen Mann zu fragen. Hm, Schäfer versuchte, aus seinen wirren Gedanken einen praktischen Schluss zu ziehen. Wollte ihm Frau Bienenfeld etwas mitteilen, was er nicht verstand? Heilige Mistgabel … Himmel und Hölle, lag das an dem Apfel, den sie ihm gegeben hatte? Aber. Das. Konnte das möglich sein? Hofer und Bienenfeld, von wegen im Dienste der Menschheit, die hatten wahrscheinlich … ruhig, Schäfer, nicht wieder durchdrehen … Hirngespinste, brr, brr, brr, wilde Pferde meiner Fantasie … andererseits: Was hatte er zu verlieren … lag er falsch, konnte er Kamp immer noch anrufen und einen einjährigen Urlaub beantragen. Er ließ den Taxifahrer umkehren und dirigierte ihn zurück nach Großgmain. Was hatte er seinem Bruder versprochen? Dass Major Schäfer die Neuroklinik nicht betreten wird. Aber! Aber es gab ja noch Hektor Maria Müller … den geheimnisvollen Unbekannten, der schon Clemens Schalk besucht hatte.
Dem gleichgültigen Portier erklärte er, dass er mit einem befreundeten Arzt sprechen müsse, und betrat das Klinikgelände. Die gesamte Anlage stammte noch aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als sie wohlhabenden Gästen als Kur- und Therapiezentrum gedient hatte. So sahen auch die Gebäude aus: der Haupttrakt ein mattgelber Imperialbau, der Schäfer an das Schloss Schönbrunn erinnerte; dazu die einzelnen Pavillons, die in strahlenförmiger Symmetrie um das Haupthaus angelegt und über fahrzeugbreite Kieswege mit ihm verbunden waren. Schäfer blickte sich um; was sollte er jetzt tun? Er studierte den frei stehenden Übersichtsplan vor dem Eingang und spazierte dann zu Pavillon 4, der als Rehabilitation ausgewiesen war. Auf dem Weg dorthin kam ihm eine Frau in weißer Kleidung entgegen.
„Entschuldigen Sie“, sprach er sie an, „das mag Ihnen vielleicht seltsam erscheinen, aber ich suche einen Mann … also eigentlich auch eine Ärztin, die ich noch aus Wien kenne …damals hatte ich einen schweren Unfall und sie hat mich betreut …“
„Und wie heißt sie?“ Die Frau sah ihn unsicher an.
„Ich kann mich nicht mehr erinnern“, meinte Schäfer und griff sich an die Stirn, „vielleicht war es Ute, oder Anne … irgendwas mit a … mein Gedächtnis hat ziemlich gelitten nach dem Unfall … wir haben uns vor fünfzehn Jahren aus den Augen verloren, leider, ich hatte sie sehr gerne … damals hat sie hier gearbeitet, bei Doktor Hofer, glaube ich … “
„Sie sollten es beim Empfang versuchen … ich bin auch erst seit zwei Jahren hier …“
„Ja, das ist eine gute Idee“, antwortete Schäfer und machte kehrt.
Als die Frau aus seinem Sichtfeld war, änderte er erneut die Richtung und spazierte zwischen den Pavillons herum, bis ihm eine junge Pflegerin
Weitere Kostenlose Bücher