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Der bessere Mensch

Der bessere Mensch

Titel: Der bessere Mensch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: G Haderer
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Hofer zum ersten Mal für einige Minuten. Wahrscheinlich hätte er es getan, meinte er schließlich, wenn es um jemand anderen gegangen wäre. Das sei für Außenstehende schwer zu verstehen. Doch Bienenfeld und er waren damals mit ihren wissenschaftlichen Erkenntnissen an einem Punkt angelangt, wo ihre Arbeit innerhalb der rechtlichen Normen stagnierte. Natürlich stellte auch die Behandlung der Patienten an ihrer Klinik – Fälle von Alzheimer, Parkinson, Chorea Huntington und anderen schweren hirnorganischen Erkrankungen – eine Herausforderung dar, die auch immer wieder Erfolge zeitigte. Doch Kastor: ein Gehirn, das offensichtlich ohne negative psychosoziale Einflüsse, ohne Drogen, ohne Missbrauch zu derartigen Handlungen verleitete … gewissermaßen die Verkörperung des Bösen im buchstäblichen Sinn. Sie hatten seinen Fall aufmerksam verfolgt – zumal Hofer den jungen Kastor während und nach einer schweren Meningoenzephalitis behandelt hatte – und sich oft über ihn unterhalten. Dass solche Schäden im Frontalhirn zu psychopathischem Verhalten führen konnten, war nichts Neues. Doch Kastor sei ein besonderes Exemplar gewesen – Hofer entschuldigte sich für den Ausdruck und hielt inne. Schäfer ahnte, was in ihm vorging. Erst jetzt, da er darüber redete, wurde ihm wohl bewusst, welche Ansichten er und Bienenfeld entwickelt hatten. Und wahrscheinlich dämmerte Hofer auch, wie ähnlich er damit seinem Vater war – wenn auch auf der anderen Seite des Spektrums. In Kastor hatten sie eine Kombination von Störungen und daraus resultierenden Verhaltensmustern versammelt gesehen, die als Paradebeispiel für ein Verbrecherhirn angesehen werden konnte. So gut wie keine Impulskontrolle, keine Anteilnahme am Leid anderer, die Unfähigkeit, aus Verhalten, das für einen selbst nachteilig ist, zu lernen; gleichzeitig Antriebs- und Perspektivenlosigkeit, und der befreiende Rausch, den der aggressive Akt nach sich zog, eine Form von Gewaltsucht, in deren Abhängigkeit Kastor geriet. Mit dem Mord an seinen Eltern als grausamem Höhepunkt, als das Töten nicht mehr genügt hatte; als er den Vater seziert, die Gedärme in die Spüle geworfen, Streifen von Fleisch an den Wänden drapiert hatte; denselben Vater, von dem er im nachfolgenden Verhör behauptete, dass er immer gut zu ihm gewesen sei, dass er ihn eigentlich sehr gern gehabt habe. An dieser Stelle verließ Schäfer für zehn Minuten den Raum, um sich die Beine zu vertreten und einen Kaffee zu trinken.
    Nach dem Ausbruch aus der Justizanstalt, nach seinem Anruf, hätten sie sich schnell entscheiden müssen. Es war eine einzigartige Chance. Kastor hatte einen Polizisten getötet, war nicht der Typ, der sich stellte; dass die Geschichte einen fatalen Ausgang nehmen würde, war ziemlich sicher. Auf jeden Fall mussten sie sein Gehirn bekommen, tot oder lebendig. Und das Schicksal hatte es offenbar mehr als gut mit ihnen gemeint. Die Verletzung, die er sich selbst zugefügt hatte, war so gravierend, dass niemand an seinem Tod zweifelte. Zu Beginn hatten nicht einmal er selbst oder Bienenfeld geglaubt, dass sie ihn retten könnten. Doch Kastor war zäh, ein Tier, das sich nicht einmal aufgeben wollte, nachdem es sich selbst gerichtet hatte. Und Schalk, wollte Schäfer wissen, wie haben Sie den so weit gebracht?
    Ein Studienkollege, ein langjähriger Freund, der Hofers Ansinnen anfangs skeptisch, dann sogar fast belustigt gegenübergestanden hatte. Die Aussicht, dass Kastor jemals wieder mehr als ein von Infusionsschläuchen und Dioden gespickter Körper sein könnte, mehr als eine Herausforderung der Intensivmedizin, war damals ja völlig abwegig gewesen. Sie waren Forscher, die besten weitum, und Schalk hatte wohl mehr an einen Gefallen unter Kollegen gedacht als an das, was Jahre später daraus folgen würde.
    Dann hatten sie begonnen – mit einer Leidenschaft und einem Ehrgeiz, die durch die erzwungene Geheimhaltung noch stärker geworden waren. Mit Ausnahme von Gerngross und ein paar unbedarften Pflegern hatten sie sich nur selbst um ihn gekümmert. Die Begeisterung, die sie empfunden hatten, als nach monatelangem zähem Warten erste Fortschritte zu erkennen waren; die ersten Bewegungen der Hände, die ersten noch unverständlichen Äußerungen; es war die beste Zeit seines Lebens, und mit Gewissheit konnte er sagen, dass es auch Max’ beste Zeit gewesen war. Denn was waren die üblichen Schädel-Hirn-Traumata, die Epilepsien, die Bonnet-, Capgras-, Asperger-

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