Der bessere Mensch
normalerweise angeregt unterhielten, wechselten sie diesmal kaum ein Wort. Schäfer hatte ein schlechtes Gewissen. Sein Verhalten vom Vortag fiel schließlich auf die ganze Abteilung zurück. Auch Bergmann und den anderen war ein Fall entzogen worden, ohne dass sie irgendeine Schuld traf. Mehr als eine kurze Entschuldigung brachte er dennoch nicht hervor. Doch an Bergmanns Gesichtsausdruck konnte er erkennen, dass das schon mehr war, als dieser erwartet hatte.
Später saß Schäfer vor dem Fernseher und wechselte je nach Werbepause zwischen drei Serien. Als ihm die Zusammenhanglosigkeit der Geschichten auf die Nerven zu gehen anfing, schaltete er ab und legte sich ins Bett.
Um drei Uhr weckte ihn das Telefon.
„Schäfer!“, hörte er seinen Kollegen Martinek aus dem Telefon schreien, „ich hab deine Nummer! Gleich oder morgen früh?“
Schäfer wälzte sich auf die Seite und sah auf den Wecker.
„Heute früh ist früh genug“, antwortete er schlaftrunken, „danke dir.“
12.
Ein Kleindealer, der bei einer Razzia vorübergehend festgenommen worden war, hatte die Nummer, von der Born angerufen worden war, in seinem Telefon gespeichert. Sie gehörte einem gewissen Milo. Milo wie noch?, wollte Schäfer wissen, doch da hatte sein Kollege bei der Befragung bloß ein Schulterzucken als Antwort bekommen. Was sollte er machen? Den Dealer anklagen, weil er eine Telefonnummer in seinem Handy hatte, die Schäfer als wichtig für seinen Fall erachtete? Ihm androhen, dass er in einen Mordprozess verwickelt werden würde? Nichts dergleichen konnte er tun. Nach der Kopfwäsche bei Kamp würde er sich zumindest eine Zeitlang streng an die Vorschriften halten. Leitner sollte sich darum kümmern, diesen Milo auszuforschen, teilte Schäfer bei der Morgenbesprechung mit.
„Bringen die vom Verfassungsschutz eigentlich irgendwas ein?“, wandte er sich anschließend an die Runde.
„So gut wie gar nichts“, erwiderte Bergmann, „ein paar Namen, die Kollege Strasser längst schon herausgefunden hat … und wenn das Gerücht stimmt, waren sie auch bei der Israelitischen Kultusgemeinde und haben sogar einen Verbindungsmann vom Mossad befragt …“
„Mossad? Drehen die jetzt komplett durch? Was wollen die mit dem israelischen Geheimdienst?“
„Das ist noch nicht offiziell … ich denke, es hat mit diesem Aufdeckerbericht zu tun, der vor gut einem Monat in den Medien war … die israelische Todesschwadron, die 1945 durch Österreich gezogen ist und Nazis hingerichtet hat …“
„Da blicke ich nicht durch … diese Leute sind entweder tot oder an die hundert Jahre alt …“
„Nachahmer vielleicht“, meinte Kovacs vorsichtig, „welche, die der Bericht inspiriert hat?“
„Und Schröck? … Der ist keine vierzig und höchstens ein Geldfaschist …“
„Stimmt auch wieder …“
„Ich rede noch heute mit einem Bekannten von der Israelitischen Kultusgemeinde“, sagte Schäfer, „damit die wissen, dass das nicht auf unserem Mist gewachsen ist … wenn überhaupt in die Richtung weiterermittelt wird … ja, dann habe ich noch eine Aufgabe für Sie, Kollegin Kovacs: Nehmen Sie sich bitte die psychiatrischen Einrichtungen, offene wie geschlossene, vor … vielleicht war unser Mann bis vor Kurzem oder irgendwann früher Patient … und lassen Sie sich nicht entmutigen, wenn man Sie auf die Verschwiegenheitspflicht hinweist … irgendwer redet immer.“
Zurück im Büro, sah sich Schäfer die Videoaufzeichnung der Vernehmung an, um die er Bruckner gebeten hatte. Er wurde nicht schlau daraus. Der Mann stritt hartnäckig ab, seine Tochter getötet zu haben. Er sei zu Mittag nach Hause gekommen, habe sich etwas zu essen gerichtet – ein halbes Hähnchen vom Vortag, Tomaten, Oliven und Weißbrot – und die Wohnung eine Stunde später wieder verlassen. Zu diesem Zeitpunkt sei seine Tochter in ihrem Zimmer gewesen, lebend. Noch einmal: Ich habe sie nicht erstochen! Aber warum zeigte der Mann dann weder die Reaktionen eines Verdächtigen, der fälschlich beschuldigt wird – Wut, Schreien, sich langsam aufbauende Verzweiflung –, noch die typischen Verhaltensweisen eines Lügners? Und wenn er wirklich unschuldig war: Wie konnte er dem Tod der eigenen Tochter so emotionslos gegenüberstehen? Ein Mord aus dem klassischen Ehrenmotiv? Da stürzte so gut wie jeder in die Fallen, die Bruckner im Verhör zu stellen wusste, vorgetäuschtes Verständnis – insgeheim verstehe ich Sie ja, es gibt einfach keine Ehre mehr, keine
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