Der bessere Mensch
Einfamilienhaus für ein Ärztepaar – es gab ja doch gute Gründe, warum er sich ein Pensionszimmer genommen hatte. Doch das unangenehme Gefühl beim Betrachten des Eigenheims seines Bruders verschwand sofort, als dieser ihm die Tür öffnete und ihn herzlich umarmte. Wo denn seine Tasche sei? Er habe ihm doch gesagt, dass er in einer Pension wohne. Aber da hätte er doch ohne weiteres auschecken können.
„Jetzt führ dich nicht auf wie Mama … ich habe Hunger.“
Als er das Esszimmer betrat, stand seine Schwägerin Monika auf und küsste ihn auf die Wange. Schäfers Nichte war nirgends zu sehen.
„Lisa ist nicht da?“
„Nein“, erwiderte sein Bruder und seufzte, „die ist in Südamerika.“
„Oha“, entfuhr es Schäfer, der seinen Teller seiner Schwägerin so lange entgegenhielt, bis er randvoll mit einem köstlich aussehenden Makkaroniauflauf war. „Wo genau?“
„Bolivien, Kolumbien, Ecuador … eine Rundreise …“
Schäfer schob sich eine Gabel voll Auflauf in den Mund. Er wusste um die Sorgen, die sein Bruder um Lisa ausstand. Übertrieben, wie er meinte, sie war achtzehn, verantwortungsbewusst und gescheit. Doch sie war auch nicht seine eigene Tochter, und deshalb gestand er sich auch nur ein stilles Urteil zu.
„Was hast du hier zu tun?“, fragte Monika, um vom Thema, das das Paar zurzeit wohl am meisten beschäftigte, abzulenken.
„Ich muss ein bisschen bei euch herumschnüffeln …“
„Bei uns?“
„Im Krankenhaus … hauptsächlich in der Verwaltung … hat mit einem alten Fall zu tun … reine Routine …“
„Reine Routine, jaja“, meinte sein Bruder und verdrehte die Augen, „und dafür schicken sie ausgerechnet dich hierher … verarsch wen anderen …“
„Hast du eben ‚verarschen‘ gesagt?“, spielte Schäfer Entsetzen vor. „Wenn das Mama hören könnte, ts ts ts, zum Glück hat deine Tochter bessere Manieren.“
„Über ihre Manieren habe ich mich nie beschwert …“
„Nein“, lenkte Schäfer schnell wieder ab, „es geht wirklich nur um einen Todesfall von vor fünfzehn Jahren, wo wir wissen müssen, wer denjenigen obduziert hat und so weiter …“
„In Salzburg“, war nun die Neugier von Schäfers Bruder endgültig geweckt, „und das kann die hiesige Polizei nicht erledigen?“
„Jetzt lass mich einmal essen“, blockte Schäfer ab. Seinem Bruder hätte er schon mehr erzählt, der konnte ein Geheimnis für sich behalten, aber seine Schwägerin, da war er sich nicht sicher.
Nachdem er mit dem ersten Teller fertig war, ließ er sich einen Nachschlag geben und vergaß dabei nicht zu erwähnen, wie vorzüglich der Auflauf sei. Ach, nur ein paar Reste, meinte Monika, und Schäfer schüttelte innerlich den Kopf über so viel Klischeehaftigkeit.
Gegen zehn waren sie endlich unter sich. Monika wollte sich eine Dokumentation über Südamerika ansehen, von der ihr Mann partout nichts mitbekommen wollte, da er nicht mitanzusehen gewillt war, wie die Todesschwadronen, Entführer und Drogendealer Jagd auf Touristen machten. Es geht um Schmetterlinge, erwiderte Schäfers Schwägerin. Jaja, kam es zurück, und um das ganze andere giftige Viehzeugs, das im Dschungel und auf den Campingplätzen und in den Hotelzimmern herumkriecht.
„Jetzt beruhige dich“, redete ihm Schäfer zu, als sie hinter dem Haus nebeneinander auf einer Holzbank saßen, „sie kann schon allein auf sich aufpassen …“
„Wenn du meinst … also: Was hast du hier zu suchen … wenn du mir die Wahrheit sagst, verzeihe ich dir auch, dass du meiner Frau nicht vertraust …“
„Wieso soll ich ihr nicht vertrauen … ich … na gut … ich bin strafversetzt … also nur offiziell … und dann gibt es da noch eine andere Geschichte: Erinnerst du dich an Paul Kastor?“
24.
Bevor er schlafen ging, setzte sich Schäfer an den kleinen Tisch in seinem Zimmer, fuhr seinen Laptop hoch und fasste die Notizen zusammen, die er sich bei seinem Bruder gemacht hatte: ein paar Namen und Telefonnummern, die ihm eventuell weiterhelfen konnten. Wenn er schon hier war, konnte er auch gleich die Details klären, die damals vernachlässigt worden waren. Kastors letzte Stunden, um einen Anfang zu machen. Jakob hatte gemeint, dass es nicht ungewöhnlich gewesen wäre, ihn als Organspender zu verwenden. Ein junger Mann, gesund, keine Angehörigen … beim Gedanken, dass Kastors Herz jemand anderem einverpflanzt worden war, bekam Schäfer eine Gänsehaut. Wer wollte denn das Herz eines
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