Der Bestatter: Thriller (Christian Beyer-Reihe)
letzten Satz nicht hatte
aussprechen wollen. Der Ton war verändert, absichtsloser, abwesender,
entspannter, Dante hatte seinen Blick von ihr abgewandt und ins Leere gleiten
lassen.
Sie gab ihm keine Zeit, einen Rückzieher zu machen: »Wie darf ich
das verstehen?«
Dantes Gesicht lag im Schatten, er kniff die Augen zusammen und sah
die gegenüberliegende weiße Wand an, deren Helligkeit durch das reflektierte
Sonnenlicht fast blendete: »Ich habe mich selbst modelliert.« Dante sprach sehr
leise weiter: »Wenn Sie sich in den Wind stellen, bewegt sich Ihr Haar. Gehen
Sie im Regen spazieren, wird Ihre Haut weicher. Setzen Sie sich der Sonne aus,
verändert sich die Farbe der Haut. Und ihr Geruch.«
Anna spürte die Spannung herannahen, die sie überfiel, wenn sie sich
dem Wesen eines Menschen nähern durfte: »In diesen Fällen sind Wind, Regen und
Sonne die freischaffenden Künstler, oder? Wie haben Sie sich modelliert?«
Dante starrte immer noch die Wand an: »Im Sand. Im Kopf. Im Blut.«
Er atmete hörbar ein und aus, und dieses konzentrierte Atmen schien ihn für
einen kurzen Moment ganz in Beschlag zu nehmen, ja sogar körperlich
anzustrengen. Dann lächelte er, ohne Anna anzusehen: »Ich war mir selbst Wind,
Regen, Sonne. Der Mensch ist immer das Material. Im Wechsel von Werden und
Vergehen.«
Dantes Lächeln wirkte bemüht.
Anna bemühte sich, ihre Stimme ausdruckslos erscheinen zu lassen:
»Das klingt irgendwie buddhistisch. Aber mir scheint, Sie sind in einem sehr
christlichen Haushalt aufgewachsen?«
Dantes Blick flirrte für wenige Sekunden nervös durchs Zimmer, bis
er wieder Ruhe fand an der Wand gegenüber: »Ich bin in einem Musterhaus groß
geworden.«
Der Ausdruck irritierte Anna: »Sie meinen, ein mustergültiges Haus?«
Forschend sah sie Dante an. Der schien im Anblick der weißen Wand
verloren, den Blick starr ins Nichts gerichtet. Kein Flackern, kein Lidreflex,
keine noch so minimale Bewegung, er war wie in Trance. Er atmete nicht einmal
mehr.
Leise fragte sie ihn: »Warum halten Sie die Luft an?«
»Um das weiße Licht zu sehen.«
Anna stutzte. Ihr Patient war komplett weggetreten. Doch plötzlich
tat er einen vehementen Atemzug, als tauche er aus tiefem Wasser auf, wandte
den Kopf von der Wand ab und sah zu Anna. Sein leerer Blick erschreckte sie.
Erst langsam schien wieder Seele in die Augen zu strömen. Anna war etwas
verstört durch sein Verhalten, so daß sie nicht schnell genug schaltete, bevor
Dante sein Unterbewußtes wieder verschloß.
»Sie waren gerade wo?«
Dante schüttelte den Kopf: »Ich möchte im Moment nicht über meine
Eltern sprechen.«
Er war bleich geworden, als er die Luft anhielt. Nun kehrte die
Farbe in sein Gesicht zurück. Anna ließ ihm Zeit und beschloß, ihm das Tempo
zurückzugeben.
»Worüber würden Sie gerne mit mir reden?«
»Über die Erbsünde. Über Schuld.«
Anna nickte: »Das haben Sie in Ihrer Mail geschrieben.« Sie wartete.
»Wie wird der Mensch zu dem, was er ist?« fragte Dante zögerlich.
Anna lehnte sich zurück. »Nun ja, Sie wissen sicher, daß es
verschiedene Theorien gibt. Sozialisation, Genetik. Die Wahrheit liegt
vermutlich in der Mitte. – Aber, Herr Dante, Sie wollen doch sicher keine
wissenschaftlichen Diskussionen mit mir führen. Worum geht es Ihnen? Irgendwas
macht Ihnen große Sorgen, das spüre ich. Woran glauben Sie Schuld zu tragen?«
Dante sah ihr schweigend in die Augen. Wieder beschlich Anna das
Gefühl, daß er ihr weit voraus war und mit ihr spielte. Ihre Fragen waren für
ihn keine Überraschungen, er führte sie genau da hin, wo er sie haben wollte.
Anna fühlte sich plötzlich unzulänglich und spürte Wut in sich aufsteigen.
»Wir können natürlich auch nett Kaffee trinken, immerhin bezahlen
Sie mich nicht schlecht.«
Dante lächelte kaum merklich: »Jetzt sind Sie böse auf mich. Warum?«
»Weil ich das Gefühl nicht loswerde, daß Sie mich manipulieren
wollen«, sagte Anna ernst. Sie wußte, daß sie sich damit weit aus dem Fenster
lehnte und gegen jegliche therapeutische Klugheit handelte, aber um hier
weiterzukommen, mußte sie augenscheinlich unorthodoxe Wege gehen.
Dante erhob sich und ging zu dem Olivenbäumchen, das Anna nach
seinem letzten Besuch auf die Fensterbank gestellt hatte.
»Es geht ihm schon viel besser«, sagte er leise.
»Sie mögen Pflanzen?« Anna suchte nach einem neuen Anknüpfungspunkt.
Dante nickte: »Sie sind unschuldig.«
»Erzählen Sie mir, was die Begriffe Schuld
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