Der Bestatter: Thriller (Christian Beyer-Reihe)
sah, wie er dem Stofftier einen Fußtritt versetzte,
wurde ihr plötzlich klar, was sie an ihm irritierte. Es waren außergewöhnliche
und trotzdem vollkommen unauffällige Kleinigkeiten, die das Gesamtbild auf den
ersten Blick nicht störten und dennoch ein gewisses Unbehagen auslösten, das um
so intensiver wurde, je länger man vergeblich über die Ursache nachdachte. Da
war seine Fähigkeit, über lange Zeit hinweg den Lidreflex zu unterdrücken.
Jeder Mensch muß mehrmals in der Minute die Augen schließen, um sie zu
befeuchten. Dante jedoch konnte einen fixieren wie eine Schlange. Außerdem
faßte er nichts an. Als er unten auf der Straße für einen kurzen Moment das
Kind in seine Arme nahm, war ihr aufgefallen, daß er ihr noch nie die Hand
gegeben hatte. Er berührte sie nie, nichts faßte er in der Praxis an, er legte
nicht einmal seine Hände auf den Sessel, weder auf die Lehnen noch auf die
Sitzflächen, sondern er legte sie auf seinen Oberschenkeln ab, wo sie
verblieben, bis er sich wieder erhob und ging. Anna würde ihm das nächste Mal
nicht als höfliche Hausherrin die Zimmertür öffnen. Sie war gespannt, ob er die
Klinke anfassen würde. Nachdenklich drückte sie die Kippe im Blumenkasten aus
und ging hinein, um das Gedicht zu lesen.
Du sollst mein Racheengel sein Gott
Hilf mir tritt du für mich ein
Laß ihn nicht davonkommen diesen ehrbaren Schrebergärtner
Erfinde die Hölle neu für ihn
Da schwelt eine Wunde mir auf der Stirn
Die kannst auch du Gott nicht heilen
Taube Stelle und Ekel im Mund
Noch nicht einmal Sehnsucht Liebeswunschleere
Getötet die Unschuld verbrannt das Kind.
(Carola Moosbach)
Annas Nackenhaare stellten sich leicht auf. Sie kannte die
Dichterin nicht, aber bis zu ihrem nächsten Patienten blieb genug Zeit, ein
wenig im Internet zu recherchieren. In einem Artikel aus dem Sonntagsblatt
Bayern vom 13. Oktober 2003 wurde sie fündig.
Wut, Tränen – und Rachepsalmen
Von Karin Vorländer
Sehr, sehr lange erschien es für Carola Moosbach völlig abwegig
zu beten. Mit 18 war sie aus der katholischen Kirche ausgetreten. Mit einem
Gott, zu dem sie als kleines Mädchen in einem Keller vergeblich um Hilfe
geschrien hatte, wollte sie nichts zu tun haben. Heute ist Carola Moosbach 45
Jahre alt und nennt sich ›Inzest-Überlebende‹. In ihrer Kindheit gab es keinen
Zeitpunkt, an dem sie jemals sich selbst gehört hätte, keinen Abend, an dem das
kleine Mädchen nicht aus Angst vor neuer Vergewaltigung gegen das Einschlafen
gekämpft hätte: »Bloß nicht schlafen Augen offen wer weiß was passiert.«
Den vom Vater begangenen Mord an ihrer Kinderseele hat sie
überlebt. Seinen Namen hat sie abgelegt und sich eine neue Identität bekunden
lassen: Moosbach heißt sie heute. Das klingt nach unberührter Natur, nach
sauberer Frische …
Anna las den Artikel zu Ende, der davon erzählte, wie
Carola Moosbach zu Gott zurückfand. Dann griff sie zum Telefon und sagte mit
zittrigen Händen alle Termine für den restlichen Nachmittag ab. Kaum hatte sie
sich den Nachmittag – nicht ohne Gezeter und temporären Vertrauensverlust –
freigeschaufelt, ging sie wieder ins Internet. Skulpturen. Mensch als Material.
Zweige. Kindesmißbrauch. Seelenmord. Unberührte Natur. Racheengel. Getötete
Unschuld. Tötende Schuld. Das konnte nicht sein. Sie war garantiert hysterisch.
Drei Stunden später lag ihr ganzer Schreibtisch voll mit allem
Material, das sie im Netz über den Bestatter hatte finden können. Sie hatte es
gelesen und wieder gelesen und dabei Unmengen Kaffee getrunken, ohne es zu
merken. Ihr Herz raste, die Hände flatterten. Es könnte sein, es könnte
wirklich sein, sagte sie sich immer wieder. Es könnte aber genausogut sein, daß
sie sich irrte. Mißbrauchsgeschichten ähnelten einander. Fest stand bislang
nur, daß Dante ihr seinen frühkindlich erlittenen Mißbrauch hatte mitteilen
wollen. Das hieß noch lange nicht, daß er selbst zum Mörder geworden war.
Trotzdem war Anna sicher, daß Presse und Polizei mit ihrer bisherigen Theorie
vom Pädophilen, der perverse Todesspiele zum Lustgewinn trieb, falsch lagen.
Möglicherweise verspürte der Bestatter pädophile Neigungen – soweit sie wußte,
kam es vor, daß mißbrauchte Kinder als Erwachsene selbst solche Neigungen
entwickelten. Die stark verhaftete Neurosignatur, die diesen Kindern in ihrer
Prägungsphase wie ein Brandzeichen in die Seele tätowiert wurde, ließ sie ein
Leben lang nicht mehr los. So wie Kinder
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