Der Bestatter: Thriller (Christian Beyer-Reihe)
Farbe der Unschuld. Das Aufbahren
in der Natur. Die Blumen. Ich nehme an, die Kinder haben alle die Augen
geschlossen?« Christian nickte.
»Ich weiß nicht, ob ich richtigliege. Aber du wirst es wissen. Die
Signatur, ist das etwas Bestimmtes, was er bei der Leiche zurückläßt?«
Anna nahm einen kräftigen Schluck Rotwein. Sie ließ Christian nicht
aus den Augen.
»Gedichte?«
Christian antwortete nicht.
»Oder sind es vielmehr Bibelzitate? Vielleicht Rachepsalmen?«
Christians Pupillen zuckten wie eine Auster, auf die man Zitrone
träufelt.
»Woher weißt du das?« stieß er hervor.
Lautes, aggressives Hundegebell ertönte, als Volker auf den
Klingelknopf drückte. Eine Frauenstimme befahl dem Hund, still zu sein. Er
gehorchte sofort, dann wurde die Tür geöffnet.
»Hi, Ina«, sagte Volker zu der vor ihm stehenden Brünetten im
Jogginganzug.
»Hi, Volker. Komm rein«, erwiderte Ina.
Volker trat ein, begrüßte den mittelgroßen Mischlingshund namens
Guevara mit einem kurzen, freundschaftlichen Gerangel und folgte Ina ins
Wohnzimmer. Nicht nur der Flur, auch der Wohnraum war mit Büchern,
Sportgeräten, Getränkekisten, halbleeren Rucksäcken und sonstigem Kram
zugestellt. Mitten im Wohnzimmer stand ein halbzerlegtes Motorrad, eine alte
Triumph.
»Wie habt ihr denn die hier reinbekommen?« fragte Volker verblüfft.
»Mit einem Flaschenzug, durch die Balkontür. Die steht schon seit
Monaten«, antwortete Ina gleichmütig.
»Und das stört dich nicht?«
Ina räumte einige Zeitschriften und Kissen vom Sofa, so daß Volker
etwa vierzig Quadratzentimeter Platz zum Sitzen fand.
»Nö. Nur wenn sie die Maschine anwerfen, um zu checken, ob der
Rückwärtsgang jetzt geht oder so was, das nervt. Es macht Krach, und die ganze
Wohnung stinkt nach Abgasen. Guevara flippt jedes Mal voll aus.«
Kaum hatte sich Volker hingesetzt, sprang ihm Guevara auf den Schoß,
warf sich auf den Rücken und bettelte mit leisen Grunzlauten um
Streicheleinheiten. Volker gab nach.
»Willst du einen Tee?« fragte Ina.
Volker lehnte dankend ab. »Danke, keine Zeit. Ich versuche seit
Stunden, Scout und Nicki zu erreichen, aber sie gehen nicht an ihre Handys.«
Ina legte die Füße auf den Couchtisch. »Kein Wunder, die sind zum
Segeln. Da haben ihrer Meinung nach Handys nichts verloren. Du weißt schon,
drei Tage lang Wind und Wellen, die offene See, sie holen sich einen
Sonnenbrand, lassen die Bärte stehen, waschen sich nicht und fühlen sich wild
und verwegen wie Hemingway. Dabei geht es nur darum zu saufen, Dope zu rauchen
und sich gegenseitig Witze zu erzählen, die sie seit Jahren kennen. Sie kommen
morgen wieder, vielleicht auch erst übermorgen, bei denen weiß man ja nie.«
Scout und Nicki waren enge Freunde und teilten sich seit Jahren
nicht nur die Wohnung, sondern auch die Frau. Ina hatte ihre beiden Männer gut
im Griff, und seit sie höchstpersönlich entschieden hatte, daß Scout und Nicki
bei ihren Einsätzen im Drogenmilieu selbst zu viel kifften und koksten, waren
die Jungs halbwegs clean unterwegs. Sie hatten sich die Rastalocken abschneiden
lassen, die T-Shirts mit den Totenköpfen im Schrank versenkt und sich in
unauffällige Anzüge geworfen, mit denen sie auch bei Einsätzen jenseits der
Reeperbahn oder des Schanzenviertels nicht unangenehm auffielen. In den
Achtzigern waren Scout und Nicki Punks in der autonomen Szene der Hafenstraße
gewesen, die Bullen waren ihre natürlichen Feinde. Als jedoch Nickis 17jährige
Schwester Meike, in die Scout sehr verliebt gewesen war, durch verschnittenes
Heroin umkam, wechselten sie die Seiten. Ihren autonomen Freunden erzählten
sie, sie würden zu den Bullen gehen, um den Feind von innen zu bekämpfen, und
dann wieder in ihr altes Leben zurückkehren. Nach drei Jahren faßten sie den
Dealer, der für Meikes Tod verantwortlich war. Und sie blieben bei der Polizei.
Über dem Sessel, in dem Ina herumlümmelte, hingen zwei Fotos, die
eine bemerkenswerte Metamorphose dokumentierten: Auf dem älteren Bild trugen
sie beide einen Irokesenschnitt, Scout hatte die nach oben gegelten Haare grün,
Nicki rot gefärbt, Scout im fleckigen Muscle-Shirt zeigte stolz seine
Tribal-Tattoos auf den Oberarmen in die Kamera, während Nicki im zerrissenen
Lederhemd an einem riesigen Joint zog. Auf dem neueren Foto standen sie brav
nebeneinander, trugen weiße Hemden, schwarze Anzüge und schwarze Sonnenbrillen.
Kriminalbeamte im Konfirmandenanzug. Kein Außenstehender würde
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