Der Bestatter: Thriller (Christian Beyer-Reihe)
liebevoll mit mir um. Ich hatte eine wirklich
glückliche Kindheit, vor allem durch ihn. Er forderte und förderte mich, nahm
sich alle Zeit der Welt für meine Problemchen, obwohl seine Professur und die
damit verbundenen Reisen ihn sehr in Anspruch nahmen. Er war aufmerksam,
zärtlich, lustig, einfach der beste Vater der Welt, verstehst du?«
Christian versuchte Annas Redefluß nicht zu unterbrechen. In
Wahrheit konnte er sich unter einem Vater, wie Anna ihn beschrieb, wenig
vorstellen. Er war seinem Sohn sicher kein guter Vater gewesen, und seinen
eigenen Vater, den hatte er kaum gekannt. Genausowenig, wie sein Sohn ihn
kannte.
»Meine Mutter habe ich nie so intensiv wahrgenommen wie meinen
Vater. Sie war da, tat die Dinge, die eine Mutter tut, kümmerte sich um den
Haushalt, motzte wegen schlechter Noten. Aber es gab kein richtiges emotionales
Band zwischen uns, ich weiß nicht, woran das lag. Und eines Tages komme ich
nach Hause, ich war dreizehn, da höre ich schon von weitem, wie er sie
anschreit. Und ich habe zum ersten Mal gesehen, wie er sie schlug. Einfach so,
mitten ins Gesicht. Sie hat keinen Mucks von sich gegeben und ist ins
Schlafzimmer gegangen. Ich bin zu meinem Vater gerannt statt zu meiner Mutter.
Ich war ganz sicher, daß meine Mutter irgendwas Schlimmes gemacht haben mußte,
sonst hätte mein Vater sich nie so vergessen. Sie mußte schuld sein. Mein Vater
wollte nicht darüber reden. Natürlich nicht. Also habe ich mir selbst etwas
zurechtgezimmert. Irgendwelche Theorien, damit mein Vater ein strahlender Held
blieb. Das ging natürlich auf Kosten meiner Mutter. Erst im Laufe der nächsten
Jahre habe ich dann begriffen, daß ich damit verdammt falschlag. Mein Vater ist
ein unbeherrschter Choleriker. Schlicht ein Arschloch. Ich hänge an ihm, und
ich hasse ihn, weil er mich so enttäuscht hat. Und ich verachte meine Mutter,
weil sie bei ihm bleibt.«
Christian streichelte ununterbrochen Annas Haar, während sie weinend
erzählte. Sie dachte nicht darüber nach, warum das alles ausgerechnet jetzt aus
ihr herausbrach, und warum sie es ausgerechnet Christian erzählte. Sie ließ den
Tränen ihren Lauf, sie ließ den Dingen ihren Lauf. Es tat gut.
»Als ich siebzehn war, bin ich einmal ausgerastet. Ich kam vom Sport
nach Hause und sah, daß meine Mutter eine riesige Prellung am Arm hatte. Sie
weinte nicht mal. Da bin ich in sein Büro gegangen und habe mit meinem
Hockeyschläger auf ihn eingedroschen. Ich habe ihm die Hand gebrochen. Mutter
hat mich dafür angeschrien, er nicht. Aber es war keine Rache für meine Mutter,
es war haltlose Enttäuschung. Das wußte er. Ich glaube, sie auch.«
Anna zog ein Papiertaschentuch aus einer neben der Couch stehenden
Box und schneuzte sich: »Inzwischen ist es so, daß ich mich aus der
Verantwortung gezogen habe. Wenn wir uns sehen – und ich sorge dafür, daß das
nicht allzuoft geschieht – tun wir wie eine ganz normale Familie.«
»Ihr seid eine ganz normale Familie«, sagte Christian.
Anna wischte sich ein letztes Mal über die Augen.
»Eine mustergültige Familie«, meinte sie sarkastisch, »wie die
meines Patienten. Er hat gesagt, er sei in einem Musterhaus aufgewachsen.
Seltsam, nicht?«
Wie von einer Faust gepackt, sprang Christian auf. Detering. Daniel
hatte herausgefunden, daß schon Deterings Vater Immobilienmakler gewesen war.
Der hatte in den späten Sechzigern sein Geschäft mit einem Musterhaus begonnen
und dieses Modell dann in ganz Deutschland an junge Familien verkauft, die in
Folge des Wirtschaftswunders zu Geld kamen.
»Sag mir den Namen, Anna«, forderte Christian etwas zu schroff.
Anna schüttelte den Kopf: »Ich habe dir schon viel zuviel gesagt.«
Sie erhob sich abrupt, flüchtete aus seiner Nähe und ging angespannt
auf und ab. Sie fluchte. Sie trat den Papierkorb. Christian gab ihr Zeit und
überlegte, wie er sie heraushalten könnte. Er nahm sein Handy und rief Volker
an, der sich lautstark über die späte Störung beschwerte, um dann sofort einen
Gang runterzuschalten und zu hoffen, daß es keinen katastrophalen Grund für den
Anruf gab. Christian nannte vor Anna keine Namen, er fragte nur, ob Scout und
Nicki schon im Einsatz seien. Insgeheim hoffte er, daß sie Detering bis zu
Annas Praxis verfolgt und ihn zur passenden Zeit auch wieder hatten
herauskommen sehen. Damit wäre bewiesen, daß Detering Annas Patient war, ohne
sie in Gewissensnöte wegen ihrer Schweigepflicht zu bringen. Doch Scout und
Nicki waren laut
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