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Der Besuch

Der Besuch

Titel: Der Besuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H.G. Wells
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geben, uns zu zeigen, was er kann. Ich habe mir das alles auf dem Weg hierher genau überlegt. Kommenden Dienstag werde ich ein paar Leute einladen, die etwas von Kunst verstehen, und da soll er seine Violine mitbringen.
    Was sagen Sie dazu? Und wenn das gut geht, werde ich sehen, ob ich ihn mit einigen Leuten bekanntmachen und ihn tatsächlich fördern kann.“
    „Aber Lady, Lady Hammergallow.“
    „Kein Wort mehr!“ sagte Lady Hammergallow, noch immer ihr Hörrohr resolut von sich gestreckt, und griff nach ihrer Stielbrille. „Ich darf die Pferde wirklich nicht so lange da drau
    ßen stehen lassen. Cutler ist immer so aufgebracht, wenn ich sie zu lange warten lasse. Er findet Warten ermüdend, der arme Kerl, wenn nicht in der Nähe ein Wirtshaus ist.“ Sie ging zur Tür.
    „Verdammt!“ flüsterte der Vikar. Er hatte dieses Wort nicht verwendet, seit er in den geistlichen Stand getreten war. Es zeigt, wie der Besuch eines Engels einen Menschen zerrütten kann.
    Er stand unter der Veranda und blickte der abfahrenden Kutsche nach. Für ihn schien eine Welt zusammenzubrechen. Hatte er umsonst über dreißig Jahre lang ein tugendhaftes Leben geführt? All die Dinge, die ihm die Leute zutrauten! Er stand da und blickte auf das grüne Kornfeld gegenüber, und dann hinunter auf die verstreuten Häuser des Dorfes. Alles schien recht wirklich zu sein. Und doch, zum erstenmal in seinem Leben, kamen ihm gewisse Zweifel an der Wirklichkeit des Dorfes. Er rieb sich das Kinn, dann drehte er sich um und ging die Stufen zu seinem Ankleidezimmer hinauf.
    Dort saß er lange Zeit und starrte auf ein Kleidungsstück, das aus irgendeinem gelben Gewebe gefertigt war. „Seinen Vater kenn’ ich“, sagte er. „Und der ist unsterblich, und war schon in seinem Himmel, als meine Vorfahren noch Beuteltiere waren ... Wäre er doch jetzt dort!“
    Er stand auf und befühlte die Robe.
    „Ich würde gerne wissen, wie sie solche Dinge bekommen“, sagte der Vikar. Dann ging er zum Fenster und starrte hinaus. „Mir kommt alles wunderbar vor, sogar der Sonnenaufgang und Sonnenuntergang. Vermutlich gibt es keinen unerschütterlichen Grund für irgendeinen Glauben. Aber man beginnt allmählich, die Dinge auf die gewohnte Art zu betrachten. Das ist ein Hindernis. Ich bekomme einen Sinn für das Unsichtbare. Das ist wohl die größte Ungewißheit, die es gibt. Seit meiner Jugend war ich nicht mehr so verstört und unsicher.“

29
    „So, das wäre in Ordnung“, sagte Crump, als er den Verband wieder angebracht hatte. „Mein Gedächtnis spielt mir zweifellos einen Streich, aber Ihre Auswüchse scheinen mir heute bei weitem nicht so groß zu sein wie gestern. Ich vermute, sie haben einen ziemlich großen Eindruck auf mich gemacht. Bleiben Sie doch zum Essen bei mir, wenn Sie schon hier sind. Mittagessen, wissen Sie. Die Jungen werden am Nachmittag wieder in der Schule verschwinden.“
    „Niemals in meinem Leben habe ich eine Wunde so schnell und gut verheilen sehen“, sagte er, als sie ins Speisezimmer gingen. „Ihr Blut und Ihr Körper müssen völlig frei von Bakterien sein. Was immer auch mit Ihrem Kopf los sein mag“, fügte er flüsternd hinzu.
    Beim Essen beobachtete er den Engel scharf, und versuchte, ihn auszuhorchen.
    „Die Reise gestern hat Sie ermüdet?“ sagte er plötzlich.
    „Die Reise!“ sagte der Engel. „Oh! Ich hatte ein etwas steifes Gefühl in den Flügeln.“
    „Man kommt nicht an ihn heran“, dachte Crump. „Ich vermute, ich muß direkt werden.“

    „Sie sind also den ganzen Weg geflogen, hm?
    Kein Transportmittel?“
    „Da war überhaupt kein Weg zurückzulegen“, erklärte der Engel, während er sich Senf nahm. „Ich flog mit einigen Greifen und feurigen Cherubinen eine Symphonie hinauf, und plötzlich wurde es dunkel, und ich war in eurer Welt.“
    „Du meine Güte“, sagte Crump. „Und deshalb haben Sie kein Gepäck bei sich.“ Er wischte sich mit der Serviette über den Mund, und in seinen Augen flackerte ein Lächeln.
    „Ich nehme an, daß Sie unsere Welt sehr gut kennen? Sie haben uns wahrscheinlich über die festen Mauern beobachtet und dergleichen mehr. Hm?“
    „Nicht sehr gut. Wir träumen manchmal davon. Im Mondschein, wenn uns die Alpträume mit ihren Schwingen im Schlaf umfächeln.“
    „Ah, ja – natürlich“, sagte Crump. „Eine sehr poetische Art, es auszudrücken. Wollen Sie keinen Burgunder? Er steht gleich neben Ihnen.“
    „Wissen Sie, man ist hier davon überzeugt, daß

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