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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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so dass der Kragen auf einer Seite hochstand wie bei der Karikatur eines Betrunkenen.
    Zum ersten Mal, seit er mir in der Arzneiausgabe seine abstruse Geschichte erzählt hatte, war ich wieder in seinem Zimmer und blickte mich mit etwas Unbehagen um, nachdem ich mich gesetzt hatte. Dort, wo das Licht des Kamins nicht hinreichte, war es so düster, dass man kaum etwas erkennen konnte. Ich konnte gerade noch den aufgewühlten Deckenberg auf seinem Bett sehen, daneben seine Kommode und ein Stück weiter den marmornen Waschtisch. Vom Rasierspiegel, der bei meinem letzten Besuch zusammen mit Rasierer, Seife und Pinsel auf dem Waschtisch gestanden hatte, gab es keine Spur mehr.
    Roderick fummelte mit Papier und Tabak herum und begann sich auf seinem Schoß eine Zigarette zu drehen. Selbst im flackernden Licht des Kamins sah ich, dass sein Gesicht rot und aufgequollen vom Alkohol war. Wie geplant sprach ich ohne große Umschweife den Verkauf des Landes an. Ich beugte mich vor, redete ihm gut zu und gab mir große Mühe, ihn zur Vernunft zu bringen, doch er wendete den Kopf ab und hörte gar nicht richtig zu. Schließlich gab ich es auf.
    Stattdessen lehnte ich mich wieder in meinen Sessel zurück und sagte: »Sie sehen furchtbar aus, Rod!«
    Darauf lachte er. »Ha! Ich hoffe, das ist kein medizinisches Urteil. Ich fürchte nämlich, das können wir uns nicht leisten!«
    »Warum tun Sie sich das an? Um Sie herum verfällt das ganze Anwesen – und Sie! Schauen Sie sich doch mal an. Sie haben Gin, Wermut und Wein getrunken, und das …« Ich nickte zu seinem Glas hinüber, das inmitten von Papieren auf dem Beistelltisch neben ihm stand. »Was ist da drin? Wieder Gin?«
    »Verdammt noch mal«, fluchte er leise. »Und wenn schon? Darf ein Mann nicht gelegentlich mal einen Schwips haben?«
    »Nein, ein Mann in Ihrer Position nicht«, erwiderte ich.
    »Und was für eine Position soll das sein, bitte schön? Gutsherr und Großgrundbesitzer?«
    »Ja, wenn Sie es so formulieren wollen.«
    Verdrossen leckte er an der Gummierung seines Zigarettenpapiers. »Sie denken an meine Mutter.«
    »Ihre Mutter wäre sehr unglücklich, wenn sie Sie so sehen würde!«
    »Dann tun Sie mir einen Gefallen, alter Knabe, und verraten Sie’s ihr nicht.« Er steckte sich die Zigarette in den Mund und zündete sie mit einem glühenden Papierfetzen aus dem Kamin an. Dann setzte er sich zurück und sagte: »Außerdem ist es ohnehin ein bisschen zu spät für sie, um noch die hingebungsvolle Hausmutter zu spielen. Vierundzwanzig Jahre zu spät, um genau zu sein. Und sechsundzwanzig in Carolines Fall.«
    »Seien Sie nicht albern«, erwiderte ich. »Ihre Mutter liebt Sie von ganzem Herzen.«
    »Darüber wissen Sie natürlich genau Bescheid.«
    »Ich weiß, was sie mir erzählt hat.«
    »Sicher, Sie beide sind ja dicke Freunde, nicht wahr? Was hat sie Ihnen denn erzählt? Wie sehr ich sie enttäuscht habe? Wissen Sie, sie hat mir nie verziehen, dass ich mich habe abschießen lassen und seitdem ein Krüppel bin. Eigentlich haben meine Schwester und ich sie unser Leben lang enttäuscht. Ich glaube, wir haben sie schon enttäuscht, als wir geboren wurden!«
    Ich antwortete nicht, und er schwieg eine Zeit lang und starrte ins Feuer. Als er wieder sprach, hatte er einen lockeren, fast beiläufigen Tonfall aufgesetzt. »Wussten Sie, dass ich als Schüler mal aus dem Internat ausgerissen bin?«
    Ich wunderte mich über den plötzlichen Themenwechsel. »Nein«, antwortete ich widerstrebend. »Das wusste ich nicht.«
    »Oh ja. Man hat es nicht an die große Glocke gehängt, aber ich bin zweimal ausgebüchst. Das erste Mal mit acht oder neun Jahren, da bin ich nicht weit gekommen. Beim zweiten Mal dagegen war ich älter, dreizehn vielleicht. Ich habe einfach das Gelände verlassen, niemand hat mich aufgehalten. Ich bin in eine Gaststätte gegangen und habe Morris, den Chauffeur meines Vaters, angerufen. Er hat mich dann abgeholt. Wir haben uns schon immer gut verstanden. Er hat mir ein Schinken-Sandwich und ein Glas Limonade bestellt, und dann haben wir uns an einen Tisch gesetzt und über die ganze Sache geredet … Ich hatte mir alles so gut zurechtgelegt. Ich wusste, dass sein Bruder eine Autowerkstatt hatte, und ich hatte fünfzig Pfund gespart und dachte mir, ich könnte vielleicht Teilhaber der Werkstatt werden – bei dem Bruder wohnen und als Automechaniker arbeiten. Mit Motoren kannte ich mich immer schon gut aus.«
    Er zog an seiner Zigarette. »Morris hat

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