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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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sich ganz prima verhalten. Er sagte: ›Also, Master Roderick‹ – er kam aus Birmingham und hatte diesen starken Akzent – ›also, Master Roderick, ich glaube, Sie würden einen sehr guten Mechaniker abgeben, und mein Bruder würde es bestimmt als große Ehre empfinden, Sie in seiner Werkstatt zu haben. Aber meinen Sie nicht, dass es Ihren Eltern das Herz brechen würde? Wo Sie doch der Erbe des Besitzes sind?‹ Er wollte mich wieder ins Internat zurückfahren, doch ich habe mich geweigert. Weil er nicht wusste, was er mit mir machen sollte, hat er mich schließlich hierher zurückgefahren und mich der Köchin übergeben. Und die Köchin hat mich dann still und heimlich zu meiner Mutter gebracht. Sie dachten natürlich, dass meine Mutter sich schon um mich kümmern würde. Dass sie schon ein gutes Wort bei meinem Vater für mich einlegen würde – so wie es die Mütter in den Filmen und auf der Bühne immer tun. Aber das tat sie keineswegs. Sie sagte mir nur, was ich für eine große Enttäuschung sei, und dann schickte sie mich zu meinem Vater; ich sollte ihm schön selbst erklären, warum ich hier sei. Der Alte machte natürlich ein Riesentheater und verprügelte mich – direkt vor dem Fenster, wo es jeder Dienstbote sehen konnte.« Er lachte bitter. »Und dabei war ich bloß weggerannt, weil ein Junge im Internat mich immer verprügelt hatte. Ein abscheulicher Junge war das, Hugh Nash hieß er. ›Dem arroganten Ayres werd’ ich’s schon geben‹, hat er immer gesagt. Doch selbst er besaß noch so viel Anstand, mich nicht in aller Öffentlichkeit zu verdreschen …«
    Die Zigarette erlosch in seinen Fingern, doch er blieb still sitzen, während seine Stimme leiser wurde. »Nash ist dann bei der Navy gelandet. Er wurde vor Malaya getötet. Und wissen Sie was? Als ich hörte, dass es ihn erwischt hatte, war ich richtig erleichtert. Obwohl ich zu dem Zeitpunkt schon in der Air Force war, war ich erleichtert – gerade so, als wären wir immer noch im Internat und ein anderer Junge hätte mir erzählt, dass Nashs Eltern ihn von der Schule genommen hätten … Ich glaube, der arme Morris ist inzwischen auch tot. Ich frage mich, wie es seinem Bruder mit der Autowerkstatt ergangen ist.« Seine Stimme wurde rau. »Ich wünschte, ich wäre damals wirklich Teilhaber der Werkstatt geworden! Dann wäre ich heute wohl glücklicher. Stattdessen stecke ich meine ganze Kraft in dieses verfluchte Anwesen. Und warum, zum Teufel? Um der Familie willen , werden Sie sicher sagen – mit Ihrer unnachahmlichen Einsicht! Glauben Sie wirklich, diese Familie ist es wert, gerettet zu werden? Schauen Sie sich doch mal meine Schwester an. Dieses Haus hat ihr das ganze Leben ausgesaugt – genau wie mir! Ja, das tut es, es saugt uns aus. Es will uns zerstören, uns alle! Jetzt setze ich mich noch dagegen zur Wehr. Aber wie lange, glauben Sie, wird das noch so weitergehen? Und wenn es dann mit mir fertig ist …«
    »Rod, hören Sie auf damit!«, sagte ich, denn seine Stimme war immer lauter und erregter geworden. Als er merkte, dass seine Zigarette ausgegangen war, beugte er sich vor, um ein weiteres Stück Zeitung am Feuer zu entzünden, dann warf er es achtlos in Richtung Kamin, woraufhin das brennende Papier vom Kamingitter abprallte und auf dem Teppich landete. Ich hob es rasch auf und warf es in den Kamin zurück. Da ich sah, in was für einem Zustand Roderick war, griff ich nach dem Kaminschutzvorhang, denn es handelte sich um einen jener Kamine, die einen Funkenschutz aus feinem Drahtgeflecht hatten, und zog ihn vor.
    Er setzte sich wieder in seinem Sessel zurück und verschränkte abwehrend die Arme. Er zog zwei- oder dreimal an seiner Zigarette, dann legte er den Kopf schräg und schaute sich suchend im Zimmer um, wobei seine Augen in dem hageren, bleichen Gesicht riesig erschienen. Ich wusste gleich, wonach er suchte, und war bitter enttäuscht und bestürzt. An diesem Abend hatte er noch mit keinem Wort an seine alten Wahnvorstellungen erinnert; sein Benehmen war zwar verstörend und unangenehm gewesen, aber immer noch im Rahmen des Normalen. Doch nun wurde mir klar, dass sich nichts verändert hatte. Sein Geist war immer noch getrübt. Getrunken hatte er wahrscheinlich bloß, um sich Mut zu machen, und seine Aufsässigkeit war nur das Gepolter eines zutiefst verzweifelten Menschen.
    Während er immer noch unruhig den Blick durch das Zimmer schweifen ließ, meinte er: »Heute Nacht wird es wieder Streiche geben! Das spüre

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