Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
Vom Netzwerk:
ich. Ich habe das inzwischen im Gefühl. Ich bin wie eine Wetterfahne: Wenn der Wind sich dreht, dann fange ich an zu zucken.«
    Er sprach so kummervoll und düster, dass ich nicht einschätzen konnte, ob er es wirklich ernst meinte oder bloß dick auftrug. Ich konnte nicht anders – unwillkürlich folgte ich seinem Blick in Richtung des Waschtisches und legte dabei ebenfalls den Kopf in den Nacken, um die darüberliegende Zimmerdecke zu betrachten. In der Dunkelheit konnte ich diesen seltsamen Fleck gerade eben erkennen – und dann wurde mir plötzlich anders, als ich nämlich etwa einen Meter daneben einen ganz ähnlichen Fleck ausmachte. Und ein Stück weiter sah ich noch einen. Ich betrachtete die Wand hinter Rods Bett und sah auch dort einen. Oder dachte zumindest, ich hätte einen gesehen. Sicher war ich mir nicht, denn in dem düsteren Zimmer mit dem flackernden Licht des Kamins konnte es sich auch um eine Täuschung handeln. Trotzdem wanderte mein Blick von einer Oberfläche zur nächsten, bis es mir schien, als ob es im ganzen Zimmer von diesen eigenartigen Flecken wimmelte, und plötzlich konnte ich den Gedanken nicht ertragen, dass Rod eine weitere Nacht – ja auch nur eine weitere Stunde – allein inmitten dieser Flecken bleiben sollte. Ich wandte den Blick von der Dunkelheit ab, beugte mich in meinem Sessel vor und sagte eindringlich: »Rod, kommen Sie mit mir nach Lidcote, ja?«
    »Nach Lidcote?«
    »Ich glaube, da sind Sie sicherer.«
    »Ich kann jetzt nicht einfach verschwinden. Das habe ich Ihnen doch schon gesagt … Der Wind dreht …«
    »Hören Sie auf, so zu reden!«
    Er kniff die Augen zusammen, als würde er plötzlich etwas begreifen. Dann neigte er den Kopf wieder und sagte beinahe kokett: »Sie haben Angst!«
    »Rod, hören Sie zu.«
    »Sie spüren es auch, nicht wahr? Sie spüren es, und Sie haben Angst! Zuerst haben Sie mir nicht geglaubt. Das ganze Gerede von Nervenstürmen und Kriegstrauma . Und jetzt haben Sie sogar noch mehr Angst als ich!«
    Ich hatte tatsächlich Angst, wurde mir plötzlich klar – allerdings nicht vor den Dingen, von denen er gefaselt hatte, sondern vor etwas, was viel weniger fassbar, aber dafür umso bedrohlicher war. Ich beugte mich vor und wollte sein Handgelenk packen.
    »Rod, um Gottes willen! Ich glaube, Sie sind in Gefahr!«
    Meine Bewegung hatte ihn erschreckt, er fuhr zurück. Und dann – wahrscheinlich bedingt durch den Alkohol – bekam er plötzlich einen Wutanfall.
    »Nehmen Sie Ihre gottverdammten Hände da weg! Hören Sie endlich auf, mir dauernd zu sagen, was ich tun soll, verflucht! Das ist alles, was Sie können! Und wenn Sie gerade mal nicht Ihre guten Ratschläge verteilen, dann grabschen Sie einen mit Ihren schmuddligen Arztfingern an. Und wenn Sie nicht grabschen, dann starren Sie einen an – mit Ihrem schmutzigen Blick. Wer sind Sie überhaupt? Was machen Sie hier, zum Teufel? Wie konnten Sie sich in diesem Haus so breitmachen? Sie gehören nicht zu unserer Familie! Sie sind ein Niemand!«
    Er knallte sein Glas auf den Tisch, dass der Gin über die Papiere schwappte. »Ich rufe jetzt Betty«, sagte er absurderweise. »Die kann Sie dann rausbegleiten!«
    Er bewegte sich unbeholfen zum Kaminsims, griff nach dem Zug, der die Dienstbotenglocke betätigte, und zerrte mehrmals kräftig daran, so dass wir von fern im Untergeschoss das hektische Klingeln hören konnten. Es klang skurril, fast wie die Glocke, die die Luftschutzwarte im Dorf bei einem Angriff betätigt hatten, und verstärkte noch das nervöse innere Flattern, das sein Reden bei mir ausgelöst hatte.
    Ich stand auf, ging zur Tür und öffnete sie gerade in dem Moment, als Betty atemlos und erschreckt auftauchte. Ich versuchte sie vom Eintreten abzuhalten.
    »Alles in Ordnung, Betty«, sagte ich. »Es war bloß ein Versehen. Geh bitte wieder runter.«
    Aber Rod schrie dazwischen: »Dr. Faraday möchte gehen! Er muss noch andere Patienten besuchen. Ist das nicht schade? Hol ihm seinen Mantel und seinen Hut und bring ihn zur Tür!«
    Das Mädchen und ich tauschten Blicke, aber was sollte ich tun? Noch vor ein paar Minuten hatte ich selbst Rod daran erinnert, dass er der »Herr im Hause« war, ein erwachsener Mann, Herr über den Gutshof und seine Bediensteten. »Also gut«, sagte ich schließlich steif. Sie trat beiseite, damit ich vorbeigehen konnte, und dann hörte ich, wie sie davoneilte, um meine Sachen zu holen.
    Ich war inzwischen so außer Fassung, dass ich tatsächlich

Weitere Kostenlose Bücher