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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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Ende des Tisches getragen hatte und sich ihm mit der Suppenterrine näherte, legte er die Hand über seine Schüssel.
    »›Ich esse meine Suppe nicht! Nein, meine Suppe ess’ ich nicht!‹«, rief er mit alberner Quäkstimme. Dann meinte er: »Du weißt doch, was mit dem bösen Buben in dieser Geschichte passiert ist, oder, Betty?«
    »Nein, Sir«, erwiderte sie unsicher.
    »Nein, Zöör!«, äffte er ihren Akzent nach. »Er ist verbrannt.«
    »Nein, das ist er nicht«, schaltete sich Caroline ein und versuchte ein Lächeln. »Er ist verhungert. Und das wirst du auch, Rod, wenn du nicht aufpasst! Obwohl ich ehrlich gesagt glaube, dass es keinem von uns groß auffallen würde. Jetzt nimm schon etwas Suppe!«
    »Ich hab’s euch doch schon gesagt«, erwiderte er und quäkte wieder: »›Ich esse meine Suppe nicht!‹ Aber du kannst mir den Wein wiederbringen, Betty. Danke!«
    Er goss sich ungeschickt ein, wobei der Flaschenhals gegen das Glas schlug und es klirren ließ. Das Weinglas war wunderhübsch, im Regency-Stil, und vermutlich zusammen mit dem Porzellan und dem Silber extra aus der Einlagerung hervorgeholt worden, und als es nun dergestalt in Erschütterung versetzt wurde, verschwand das Lächeln aus Carolines Gesicht. Sie blickte ihren Bruder plötzlich aufrichtig verärgert an, und ich wunderte mich über den Abscheu, der aus ihrem Blick sprach. Während des Essens blieb ihre Miene verhärtet, was ich schade fand, denn das Kerzenlicht ließ ihr Äußeres vorteilhaft erscheinen; es milderte ihre kantigen Gesichtszüge, und ihre eckige Schulterpartie und das hervorstehende Schlüsselbein wurden von den Falten des Umhangs verdeckt.
    Auch Mrs. Ayres schmeichelte das Kerzenlicht. Sie sprach zwar nicht mit ihrem Sohn, hielt aber eine leichte, unangestrengte Konversation mit mir aufrecht, wie sie es schon zuvor im kleinen Salon getan hatte. Zunächst hielt ich das lediglich für ein Zeichen guter Erziehung; ich dachte, Rods Benehmen sei ihr peinlich und sie bemühe sich, es zu überspielen. Doch mit der Zeit spürte ich einen gewissen gereizten Unterton in ihrer Stimme, und da fiel mir wieder ein, dass Caroline mir kürzlich in der Bibliothek erzählt hatte, ihre Mutter und ihr Bruder hätten sich »fast gestritten«. Und plötzlich wünschte ich mir, ich wäre gar nicht erst hergekommen – was mir auf Hundreds noch nie passiert war –, und ich sehnte mich danach, dass das Abendessen endlich vorbei wäre. Weder das Haus noch ich hatten diese Missstimmung verdient, fand ich.
    Kurz darauf wendete sich unser Gespräch einem Patienten zu, den ich kürzlich wegen der Grippe behandelt hatte, ein ehemaliger Pächter von Hundreds, der eine Viertelmeile vom Westtor entfernt lebte. Ich bemerkte, was es doch für ein glücklicher Umstand sei, dass ich die Straße durch den Park benutzen konnte, um zu ihm zu gelangen, und wie sehr mir das meine Wege erleichtern würde. Mrs. Ayres stimmte mir zu, doch dann meinte sie: »Ich hoffe bloß, dass das auch in Zukunft noch erlaubt sein wird.«
    »Ja, aber warum denn nicht?«, fragte ich überrascht.
    Sie blickte ihren Sohn vielsagend an, als wartete sie darauf, dass er eine Antwort geben würde. Er erwiderte jedoch nichts, sondern starrte bloß in sein Weinglas, so dass sie sich schließlich den Mund mit ihrer Leinenserviette abtupfte und sagte: »Roderick hat mir heute leider sehr unerfreuliche Neuigkeiten mitgeteilt, Herr Doktor. Es sieht so aus, als müssten wir bald noch mehr Land verkaufen.«
    »Tatsächlich?«, meinte ich und wandte mich an Rod. »Ich dachte, es gäbe gar nichts mehr zu verkaufen. Wer ist denn diesmal der Käufer?«
    »Wieder der Grafschaftsrat«, sagte Mrs. Ayres, als Rod keine Antwort gab. »Und Maurice Babb ist wieder der Bauunternehmer. Vierundzwanzig weitere Häuser haben sie geplant. Können Sie sich das vorstellen? Ich hätte ja gedacht, dass die Bauvorschriften so etwas verbieten, wo doch dort sonst immer alles so streng geregelt ist. Aber offenbar ist die Regierung nur zu gerne bereit, Baugenehmigungen an Leute zu erteilen, die Parklandschaften und Landgüter zerstückeln wollen, um vierundzwanzig Familien auf einen Hektar Land zu pferchen. Das wird einen Durchbruch der Parkmauer bedeuten, Rohre werden verlegt und so weiter und so fort.«
    »Die Parkmauer?«, fragte ich verständnislos.
    Nun ergriff Caroline das Wort. »Rod hat ihnen Ackerland angeboten«, sagte sie, »aber das wollten sie nicht. Sie wollten nur die Ringelnatterwiese am Westrand der

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