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Der Besucher - Roman

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Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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Mauer. Sie haben sich auch endlich dazu durchgerungen, die Wasser- und Stromleitungen hier raus zu verlegen – aber sie wollen die Hauptleitung nicht allein für uns verlängern, sondern nur, wenn auch neue Häuser gebaut werden, die davon profitieren können. Es sieht so aus, als ob wir gerade eben das Geld zusammenbekämen, um dann das letzte Stück bis zur Farm und nach Hundreds auf eigene Kosten zu verlegen.«
    Einen Moment lang war ich zu bestürzt, um etwas zu erwidern. Die Ringelnatterwiese wie Caroline und Roderick sie als Kinder getauft hatten, lag unmittelbar an der Parkmauer, etwa eine Dreiviertelmeile vom Haus entfernt. Im Hochsommer war sie hinter Bäumen verborgen, doch sobald im Herbst das Laub fiel, konnte man sie von allen nach Süden und Westen gerichteten Fenstern des Herrenhauses sehen: ein ferner silbriggrüner Streifen, der sich kräuselte wie weicher Samt. Der Gedanke, dass Rod allen Ernstes vorhatte, diese hübsche Wiese aufzugeben, ärgerte mich sehr.
    »Das ist doch nicht Ihr Ernst«, sagte ich zu ihm. »Sie können doch nicht den Park zerstückeln. Da muss es doch noch andere Möglichkeiten geben!«
    Und wieder antwortete seine Mutter für ihn. »Offenbar nicht, außer wir würden das Haus und den Park ganz verkaufen; und das zieht selbst Roderick nicht in Betracht, nicht, nachdem wir schon so viel aufgegeben haben, um das Haus zu halten. Allerdings werden wir im Kaufvertrag die Bedingung stellen, dass Babb einen Zaun um die Baustelle errichtet – dann müssen wir sie wenigstens nicht sehen!«
    Nun endlich sprach Roderick. Mit schwerer Zunge sagte er: »Ja, wir müssen unbedingt einen Zaun haben, um den Mob fernzuhalten. Nicht, dass das viel nützen wird. Bald werden sie nachts die Hausmauern hinaufklettern, mit Entermessern zwischen den Zähnen. Du solltest dann besser mit einer Pistole unterm Kopfkissen schlafen, Caroline!«
    »Das sind doch keine Piraten, du Dummkopf«, murmelte sie, ohne von ihrem Teller aufzublicken.
    »Nein? Da bin ich mir gar nicht so sicher. Ich glaube, die würden uns am liebsten an der Großbrasse aufknüpfen; sie warten bloß noch auf einen entsprechenden Befehl von Attlee. Wahrscheinlich wird er den bald geben. Das gemeine Volk hasst unsereins doch heutzutage, merkt ihr das nicht?«
    »Also bitte, Roderick«, sagte Mrs. Ayres peinlich berührt. »Niemand hasst unsereins. Nicht hier in Warwickshire.«
    »Oh, besonders hier in Warwickshire! Drüben, in Gloucestershire, da sind sie im Herzen immer noch feudal eingestellt. Aber in Warwickshire waren die Menschen von jeher gute Kaufleute – schon zu Zeiten des Bürgerkriegs. Schon damals waren sie alle für Cromwell, vergesst das nicht! Und jetzt, wo sie sehen, woher der Wind weht, könnte ich es ihnen gar nicht verübeln, wenn sie uns die Köpfe abschlagen wollten. Beim Versuch, uns selbst zu retten, haben wir nicht eben eine glanzvolle Figur abgegeben.« Er machte eine ungelenke Handbewegung. »Schauen Sie sich doch bloß mal Caroline und mich an, preisgekrönte Färse und preisgekrönter Bulle. Wir tragen nicht gerade viel dazu bei, die Herde weiterzuführen! Es sieht doch beinahe so aus, als wollten wir unser eigenes Aussterben vorantreiben!«
    »Rod!«, sagte ich vorwurfsvoll, als ich die Miene seiner Schwester sah.
    »Was?«, meinte er. »Sie sollten doch eigentlich froh darüber sein. Sie haben doch auch Piratenblut in sich, oder? Sonst wären Sie heute Abend wohl kaum eingeladen worden. Mutter ist es nämlich viel zu peinlich, irgendwelchen unserer echten Freunde zu zeigen, wie es uns jetzt geht. Haben Sie das noch nicht begriffen?«
    Ich merkte, wie ich rot wurde, jedoch eher aus Wut, nicht so sehr aus Verlegenheit. Auf keinen Fall wollte ich ihm aber die Genugtuung verschaffen, mein Unbehagen zu zeigen, daher hielt ich den Blick während des Essens fest auf ihn gerichtet. Ich fixierte ihn von Mann zu Mann, und meine Taktik ging auf, denn er blinzelte, und einen Moment lang sah es so aus, als schäme er sich, wie ein großmäuliger Junge, der im Stillen über seine eigene Kühnheit erschrickt.
    Caroline hatte den Kopf gesenkt und fuhr mit dem Essen fort. Mrs. Ayres schwieg einige Zeit, dann legte sie Messer und Gabel beiseite. Als sie wieder sprach, erkundigte sie sich nach einem meiner Patienten, ganz so, als sei unser vorangegangenes Gespräch nie unterbrochen worden. Sie verhielt sich ausgesucht freundlich und höflich; ihre Stimme klang ruhig; ihren Sohn würdigte sie jedoch nach dem Vorfall keines

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