Der Besucher - Roman
einen Moment vor der Tür zum kleinen Salon stehen bleiben musste, um mich zu sammeln. Als ich dann schließlich eintrat, war ich innerlich immer noch so aufgewühlt, dass ich befürchtete, meine Miene würde mich sofort verraten. Doch niemand nahm von meinem Eintreten Notiz. Caroline hatte ein Buch aufgeschlagen vor sich im Schoß liegen, und Mrs. Ayres war in ihrem Sessel am Kamin eingeschlafen. Das erschütterte mich offen gestanden etwas, denn ich hatte sie noch nie schlafen sehen, und als ich zu ihr hinüberging, schreckte sie auf und sah mich einen Moment lang mit dem verängstigten, desorientierten Blick einer verwirrten alten Frau an. Sie hatte sich ein Schultertuch über den Schoß gebreitet, das nun zu Boden glitt. Ich bückte mich, um es aufzuheben, und als ich mich aufrichtete, hatte sie sich wieder gefasst und steckte es um ihre Knie fest.
Sie erkundigte sich, wie es Roderick ging. Ich zögerte einen Augenblick und erwiderte dann: »Nicht besonders, um ehrlich zu sein. Ich … Ich wünschte, ich könnte mehr sagen. Caroline, würden Sie vielleicht gleich noch mal nach ihm sehen?«
»Nicht, wenn er betrunken ist«, erwiderte sie. »Dann ist er einfach nur unangenehm!«
»Betrunken!«, rief Mrs. Ayres mit einem Hauch von Verachtung aus. »Gott sei Dank muss seine Großmutter das nicht mehr mit ansehen – die Mutter des Colonels, meine ich. Sie hat immer gesagt, dass es keinen deprimierenderen Anblick gäbe als einen Mann, der zu tief ins Glas geschaut hat. Und ich muss sagen, da bin ich mit ihr ganz einer Meinung. Und was die Familie meiner Mutter betrifft – ich glaube, meine Urgroßeltern waren Temperenzler. Ja, ich bin mir fast sicher.«
»Vielleicht könnten Sie Ihrem Bruder trotzdem einen kurzen Besuch abstatten, ehe Sie zu Bett gehen«, sagte ich zu Caroline und blickte sie bedeutungsvoll an. »Nur um zu sehen, ob alles in Ordnung ist.«
Endlich verstand sie, worauf ich hinauswollte. Sie schloss müde und genervt die Augen, rang sich jedoch ein Nicken ab.
Das beruhigte mich ein wenig, doch es fiel mir schwer, am Feuer sitzen zu bleiben und mich über alltägliche Dinge zu unterhalten, als wäre nichts geschehen. Ich dankte ihnen für das Abendessen und verabschiedete mich. Betty wartete schon in der Eingangshalle mit meinem Hut und Mantel, und als ich sie so dastehen sah, fielen mir wieder Rodericks Worte ein: Wer sind Sie überhaupt? Sie sind ein Niemand!
Draußen herrschte immer noch fürchterliches Wetter, das nicht gerade dazu beitrug, meine Stimmung zu heben. Während der Heimfahrt spürte ich eine Welle des Zorns und der Empörung in mir aufsteigen, was sich auf meine Fahrweise auswirkte: Ich knallte die Gänge rein und bog einmal so schnell in eine Kurve, dass mein Auto fast von der Straße abgekommen wäre. Um mich zu beruhigen, arbeitete ich bis nach Mitternacht an Rechnungen und Papieren, doch als ich schließlich zu Bett ging, lag ich immer noch unruhig wach und hoffte beinahe darauf, dass ich noch zu einem Patienten gerufen würde, damit meine Gedanken auf ein anderes Thema gelenkt wurden.
Doch das Telefon klingelte nicht, und schließlich schaltete ich die Lampe an, stand auf und goss mir einen Drink ein. Als ich zurück ins Bett ging, blieb mein Blick an dem alten Foto von Hundreds Hall in dem hübschen Schildpattrahmen hängen. Ich hatte es die ganze Zeit zusammen mit der Gedenkmünze vom Empire Day auf meinem Nachttisch liegen gehabt. Ich nahm es in die Hand und betrachtete das Gesicht meiner Mutter. Dann wanderte mein Blick zu dem Herrenhaus im Hintergrund, und wie so oft dachte ich an seine Bewohner und fragte mich, ob sie wohl gerade in ihren stillen, kühlen Zimmern friedlicher schliefen als ich. Mrs. Ayres hatte mir das Bild im Juli geschenkt, inzwischen war Anfang Dezember. Wie um alles in der Welt hatte sich mein Leben in diesen paar Monaten derart mit dem der Familie Ayres verquicken können, dass ich nun völlig aus der Ruhe war und mich mit ihren Problemen grämte?
Der Alkohol dämpfte meinen Zorn etwas, und schließlich übermannte mich der Schlaf. Doch ich schlief unruhig, und während ich mich in schweren, düsteren Träumen hin und her warf, geschah auf Hundreds Hall etwas Schreckliches.
7
D as geschehen war, reimte ich mir hinterher folgendermaßen zusammen:
Nachdem ich das Haus verlassen hatte, blieben Mrs. Ayres und Caroline noch etwa eine Stunde im kleinen Salon. Während dieser Zeit ging Caroline, beunruhigt durch meine
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