Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
Vom Netzwerk:
Blickes mehr. Stattdessen schien sie ihn gänzlich zu schneiden – sie ließ ihn im Dunkeln, gerade so, als würde sie die Kerzen an seinem Platz eine nach der anderen löschen.
    Nun war das Abendessen nicht mehr zu retten. Zum Dessert gab es Pie mit eingemachten Himbeeren, die etwas säuerlich schmeckten, dazu künstliche Sahne; im Speisezimmer war es ziemlich feucht und kühl, der Wind heulte im Kamin, und der Tisch lud auch nicht dazu ein, länger als nötig an ihm zu verweilen, selbst wenn die Stimmung besser gewesen wäre. Mrs. Ayres teilte Betty mit, dass wir den Kaffee im kleinen Salon trinken würden, und sie, Caroline und ich erhoben uns und legten unsere Servietten beiseite.
    Nur Rod ließ sich Zeit. Als wir an der Tür waren, sagte er missgelaunt: »Ich komme nicht mit. Ich bin mir sicher, das werdet ihr verschmerzen. Ich muss mich noch um ein paar Papiere kümmern.«
    »Wahrscheinlich Zigarettenpapiere«, erwiderte Caroline spitz und ging den Korridor entlang, um ihrer Mutter die Tür zum kleinen Salon aufzuhalten.
    Roderick ignorierte ihre Bemerkung, doch wieder hatte ich das Gefühl, dass er in seiner eigenen schlechten Laune gefangen war und sich im Stillen selbst dafür schämte. Ich sah ihm hinterher, wie er den düsteren Korridor in Richtung seines Zimmers einschlug, und empfand plötzlich eine Art zorniges Mitleid; es kam mir grausam vor, dass wir ihn so ziehen ließen. Doch trotzdem leistete ich seiner Mutter und seiner Schwester im kleinen Salon Gesellschaft. Sie legten gerade Holz nach.
    »Ich muss mich für meinen Sohn entschuldigen, Herr Doktor«, sagte Mrs. Ayres, setzte sich und hielt sich den Handrücken an die Schläfe, als habe sie Kopfschmerzen. »Sein Benehmen heute Abend war schlicht unverzeihlich! Merkt er denn gar nicht, wie unglücklich er uns alle damit macht? Wenn er nun zu allem Überfluss auch noch das Trinken anfangen will, muss ich wirklich dafür sorgen, dass Betty den Wein wegschließt. Ich habe nie erlebt, dass sein Vater bei Tisch betrunken gewesen wäre … Ich hoffe, Sie wissen trotzdem, wie sehr Sie uns willkommen sind. Setzen Sie sich doch noch ein wenig her zu mir.«
    Ich setzte mich, Betty brachte den Kaffee, und wir unterhielten uns noch eine Weile über den Verkauf des Grundstücks. Ich erkundigte mich noch einmal, ob es denn wirklich keine andere Möglichkeit gäbe, und wies sie darauf hin, welche Unruhe die Bauarbeiten verursachen würden und wie sich diese Veränderungen mit Sicherheit auch auf das Leben auf Hundreds auswirken würden. Doch sie hatten sich das bereits alles selbst durch den Kopf gehen lassen und sich offenbar ins Unvermeidliche gefügt. Selbst Caroline wirkte ungewöhnlich zurückhaltend. Daher überlegte ich mir, noch einmal mit Roderick zu reden, zumal mich die Vorstellung quälte, dass er da ganz allein und unglücklich auf der anderen Seite des Hauses saß. Als ich meinen Kaffee ausgetrunken hatte, stellte ich die Tasse ab und kündigte an, dass ich mal kurz bei ihm vorbeischauen und mich erkundigen wollte, ob ich ihm vielleicht bei seiner Arbeit helfen könnte.
    Wie ich es nicht anders erwartet hatte, war die »Arbeit« natürlich nur ein Vorwand gewesen. Er saß in beinahe völliger Dunkelheit in seinem Zimmer, nur das Feuer im Kamin verbreitete ein wenig Licht. Diesmal hatte ich nicht angeklopft, um ihm gar nicht erst die Möglichkeit zu geben, mich abzuweisen. Er wandte den Kopf und sagte verdrießlich: »Ich habe mir schon gedacht, dass Sie kommen würden.«
    »Darf ich mich einen Moment zu Ihnen setzen?«
    »Was glauben Sie wohl? Sie sehen doch, wie schrecklich beschäftigt ich gerade bin … Nein, lassen Sie bitte das Licht aus! Ich habe Kopfschmerzen.« Ich hörte, wie er ein Glas abstellte und sich zum Kamin bewegte. »Ich werde lieber noch ein bisschen Holz nachlegen. Kalt genug ist es ja!«
    Er holte ein paar Holzscheite aus der Kiste neben dem Kamin und warf sie unbeholfen aufs Feuer. Funken stoben, Asche staubte aus dem Kamin, und im ersten Moment dämpften die frischen feuchten Scheite das Feuer, so dass es im Zimmer noch dunkler wurde. Doch als ich den Kamin erreicht und den anderen Sessel neben Rod gezogen hatte, züngelten die Flammen schon knisternd an den frischen Scheiten empor, und ich konnte Rod gut erkennen. Er hing zurückgelehnt in seinem Sessel und hatte die Beine lang ausgestreckt. Er trug immer noch Smoking, Wollweste und Halbfingerhandschuhe, hatte jedoch die Krawatte gelockert und einen Kragenknopf geöffnet,

Weitere Kostenlose Bücher