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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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Andeutungen, einmal in Rods Zimmer, um nach ihm zu schauen. Er hing mit offenem Mund in seinem Sessel, eine leere Gin-Flasche in der Hand, und war zu betrunken, um zu sprechen. Wie sie sagte, sei sie zunächst schlichtweg wütend gewesen und hatte nicht übel Lust, ihn einfach sich selbst zu überlassen – sollte er doch da »in seinem Sessel versauern«. Doch dann blickte er sie trübe an, und etwas in seinem Blick rührte sie – eine vage Erinnerung daran, wie er einmal gewesen war. Einen Moment lang fühlte sie sich beinahe ohnmächtig angesichts der hoffnungslosen Situation, in der sie sich alle befanden. Sie kniete sich neben ihn, nahm seine Hand und hielt sie sich ans Gesicht. »Was ist bloß in dich gefahren, Roddie?«, fragte sie ihn leise. »Ich erkenne dich gar nicht mehr wieder. Ich vermisse dich. Was ist geschehen?«
    Er strich mit den Fingern über ihre Wange, brachte aber keine Antwort heraus. Sie blieb noch ein paar Minuten an seiner Seite knien, dann riss sie sich zusammen und beschloss, ihm in sein Bett zu helfen. Da sie vermutete, dass er noch mal zur Toilette musste, half sie ihm auf und schickte ihn zum »Herrenhäuschen« am Ende des Flurs. Als er zurückgetaumelt kam, befreite sie ihn von seinem Kragen und zog ihm Schuhe und Hose aus. Aus den Monaten nach seinem Flugzeugabsturz war sie daran gewöhnt, ihm beim An- und Auskleiden zu helfen, es machte ihr nichts aus. Sie sagte, er sei eingeschlafen, kaum dass er auf dem Kopfkissen lag, und habe geschnarcht und schrecklich nach Alkohol gerochen. Da er auf dem Rücken lag, erinnerte sie sich an ihr Erste-Hilfe-Training aus Kriegszeiten und versuchte ihn auf die Seite zu drehen, falls er sich übergeben musste. Doch sein schlaffer, schwerer Körper widersetzte sich allen Versuchen, und schließlich gab sie erschöpft und entmutigt auf.
    Sie vergewisserte sich, dass er gut zugedeckt war, dann trat sie zum Kamin, zog den Funkenschutz zurück und legte ein paar Holzscheite nach. Danach schloss sie den Funkenschutz wieder; jedenfalls war sie sich dessen später ziemlich sicher. Und gleichfalls war sie sicher, dass weder irgendwelche Zigaretten in den Aschenbechern geglüht hatten noch Kerzen oder Petroleumlampen brannten. Daraufhin kehrte sie wieder in den kleinen Salon zurück und verbrachte dort eine weitere halbe Stunde bei ihrer Mutter. Weit vor Mitternacht gingen dann beide zu Bett; Caroline las noch eine Viertelstunde, ehe sie ihr Licht löschte, und schlief fast augenblicklich ein.
    Einige Stunden später, gegen halb vier, wurde sie wach, weil sie aus der Ferne, aber dennoch deutlich, das Splittern von Glas hörte. Das Geräusch kam von unten, gleich unterhalb ihrer eigenen Fenster – also von einem der Fenster ihres Bruders. Sie setzte sich im Bett auf und vermutete, dass Rod aufgewacht war und unten herumpolterte. Ihr erster Gedanke war, dass sie ihn davon abhalten musste, in den ersten Stock zu kommen und womöglich ihre Mutter zu wecken. Verschlafen stand sie auf und zog sich ihren Morgenmantel über. Während sie sich innerlich auf die unangenehme Aufgabe vorbereitete, ihn wieder zu beruhigen, kam ihr der Gedanke, dass das Geräusch womöglich gar nicht von ihrem Bruder verursacht worden war, sondern von einem Einbrecher, der versucht hatte, ins Haus zu gelangen. Vielleicht war ihr ja Rods Bemerkung über die Piraten mit den Entermessern wieder in den Sinn gekommen. Jedenfalls trat sie leise an ihr Fenster, zog den Vorhang zurück und blickte nach draußen. Über dem Garten lag ein zuckender gelber Schein, und sie roch Rauch – das Haus brannte.
    In einem Herrenhaus wie Hundreds Hall stellt ein Feuer stets eine Katastrophe dar. In früheren Zeiten hatte es ein- oder zweimal kleinere Brände in der Küche gegeben, die sich jedoch schnell wieder löschen ließen. Während des Krieges hatte Mrs. Ayres in ständiger Angst vor einem Luftangriff gelebt, und auf jedem Stockwerk waren Eimer mit Sand und Wasser sowie Schläuche und Handpumpen deponiert worden – jedoch hatte man sie nie gebraucht. Inzwischen waren die Pumpen längst weggeräumt worden, es gab keinerlei mechanische Löschgeräte; lediglich in einem der Korridore im Untergeschoss hing eine Reihe altmodischer, angegrauter und wahrscheinlich längst leck gewordener Ledereimer, die zwar malerisch aussahen, aber nicht unbedingt zweckmäßig waren. Eigentlich ist es verwunderlich, dass Caroline, die sich all dessen bewusst war, beim Anblick des tanzenden gelben Lichtes nicht in Panik

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