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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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auf der anderen Seite des Saales mit in den Frauenkreis gezogen wurde; danach behielt ich sie im Blick und hoffte, ihr in einer der Musikpausen im Kreis gegenüberzustehen. Doch jedes Mal hopsten wir aufeinander zu, nur um dann wieder in entgegengesetzte Richtungen weitergezogen zu werden. Der Kreis der Frauen, aufgebläht durch die vielen Krankenschwestern, war erheblich größer als der der Männer. Ich sah, wie Caroline lächelte und ein paarmal fast gestolpert wäre, als sich ihre Füße mit denen der anderen Mädchen verhedderten; und einmal, als sie an mir vorbeisauste, fing sie meinen Blick auf und verzog das Gesicht: »Das ist wahnsinnig!«, rief sie, glaube ich. Das nächste Mal, als sie sich im Kreis näherte, lachte sie über das ganze Gesicht. Das offene Haar hing ihr in feuchten Strähnen in die Stirn, und feine Schweißperlen standen auf ihrem Gesicht. Schließlich kam sie ein oder zwei Plätze zu meiner Linken aus, als die Musik anhielt, und im anschließenden höflichen, aber zielstrebigen Gerangel schob ich mich auf sie zu, um sie aufzufordern. Doch ein großer, erhitzt aussehender Mann kam mir zuvor – Jim Seeley, wie ich erst auf den zweiten Blick erkannte. Er war, wenn man die Kreisordnung bedachte, wohl auch ihr rechtmäßiger Partner, doch sie warf mir einen alarmierten Blick zu, als er sie in eine enge Umarmung zog und sie dann, sein Kinn an ihr Ohr gepresst, in einem Slowfox davonlenkte.
    Ich tanzte bei diesem Lied mit einer der jüngeren Schwestern, und als es endete und die beiden Kreise sich wieder formierten, diesmal wilder und rüpelhafter als zuvor, verließ ich die Tanzfläche. Ich holte mir an der Bar noch einen Becher der wässrigen Bowle, dann bewegte ich mich aus dem dicksten Gedränge fort und schaute den Tanzenden zu. Caroline war Seeley inzwischen wieder losgeworden und hatte einen weniger erdrückenden Partner gefunden, einen jungen Mann mit Hornbrille. Seeley hatte ebenso wie ich die Tanzfläche verlassen und der Bar den Vorzug gegeben. Er hatte seine Bowle hinuntergekippt, holte gerade Zigaretten und Feuerzeug hervor und begegnete genau in diesem Moment meinem Blick. Daraufhin kam er zu mir herüber und bot mir eine Zigarette aus seinem Etui an.
    »Bei solchen Gelegenheiten fühle ich mich richtig alt, Faraday«, sagte er, nachdem unsere Zigaretten brannten. »Kommen Ihnen die Krankenschwestern nicht auch so verflucht jung vor? Ich hätte schwören können, dass die Kleine, mit der ich da vorhin getanzt habe, kaum älter aussah als meine zwölfjährige Tochter. Das mag ja noch angehen für einen alten Perversling wie diesen …«, und hier nannte er einen der leitenden Chirurgen, der vor ein oder zwei Jahren im Mittelpunkt eines kleinen Skandals gestanden hatte. »Aber wenn ich mit einem Mädchen tanze und sie frage, wie ihr die Gegend gefällt, und sie mir erzählt, dass es sie an den Ort erinnert, wo sie 1940 als Kind in der Evakuierung war, dann fördert das die romantische Stimmung nicht gerade. Und was das Herumgetrampel im Kreis angeht, da ist mir doch ein altmodischer langsamer Walzer lieber. Wahrscheinlich werden sie gleich noch Rumba-Rhythmen spielen – dann gnade uns Gott!«
    Er holte ein Taschentuch hervor und wischte sich damit erst über das Gesicht und dann am Kragen entlang. Seine Kehle war puterrot, die Fliege hing schlaff herab. Die Orchidee hatte er eingebüßt, einzig der fleischige grüne Stengel steckte noch an seinem Aufschlag. Erhitzt durch Alkohol und Bewegung, strahlte er Wärme ab wie ein Grillrost, so dass es ziemlich unangenehm war, in dem überheizten Saal neben ihm zu stehen. Doch da ich eine seiner Zigaretten angenommen hatte, war es ein Gebot der Höflichkeit, dass ich ihm beim Rauchen Gesellschaft leistete. Er schnaufte, wischte sich noch ein paarmal die Stirn ab und brummelte vor sich hin; dann wandten sich unsere Blicke wieder der Tanzfläche zu, und wir betrachteten schweigend die vorbeiziehenden Paare.
    Caroline sah ich zuerst gar nicht und dachte schon, dass sie die Tanzfläche vielleicht verlassen hätte. Doch sie tanzte nach wie vor mit dem jungen Mann mit der Hornbrille, und als ich sie erst einmal entdeckt hatte, kehrte mein Blick immer wieder zu ihr zurück. Der Paul Jones war vorüber, und nun wurde wieder etwas ruhiger getanzt, doch man spürte noch die Nachklänge der ausgelassenen Stimmung. Caroline stand, genau wie den anderen Tänzern, der Schweiß im Gesicht, ihr Haar war durcheinander, Schuhe und Strümpfe mit Kreidestreifen

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