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Der Besucher - Roman

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Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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wurde. Daher beugte ich mich zu ihr hin und sagte, so leise ich es über die Musik hinweg konnte: »Da kommt gerade Graham zu uns hinüber. Macht es Ihnen etwas aus, ihn zu treffen?«
    Sie schaute mich nicht an, aber schüttelte kurz den Kopf.
    »Nein, es macht mir nichts. Ich dachte mir schon, dass er hier sein würde.«
    Die kurze Verlegenheit, die bei der Ankunft der Grahams entstand, zerstreute sich rasch wieder. Sie hatten Gäste mitgebracht, ein Ehepaar aus Stratford und ihre verheiratete Tochter, und es stellte sich heraus, dass Caroline und die Tochter sich von früher kannten. Lachend und begleitet von Ausrufen der Verwunderung begrüßten sie einander und tauschten Küsse aus.
    »Wir haben uns schon vor ewigen Zeiten kennen gelernt«, erklärte Caroline mir. »Jahre ist das her – irgendwann im Krieg.«
    Die Tochter, Brenda, war eine gut aussehende Blondine, die für meine Begriffe ein wenig aufreizend wirkte. Ich freute mich für Caroline, dass sie gekommen war, bedauerte es aber auch irgendwie, denn es kam mir so vor, als habe sich nach der Ankunft von ihr und ihren Eltern eine Kluft zwischen den Älteren und den Jüngeren aufgetan. Caroline und sie hielten sich ein wenig abseits vom Rest der Gruppe und zündeten sich Zigaretten an, und bald hakten sie einander unter und marschierten in Richtung Damentoilette.
    Als sie wieder zurückkamen, war ich schon von Graham und seinen Begleitern mit Beschlag belegt worden. Wir hatten einen Tisch abseits der lauten Musik gefunden, und Graham hatte ein paar Flaschen algerischen Wein mitgebracht. Caroline und Brenda bekamen ebenfalls Becher überreicht, und man bot ihnen Stühle an, doch sie wollten sich nicht setzen, sondern blieben lieber am Rand der Tanzfläche stehen und schauten sich das Treiben an. Brenda wippte im Takt der Musik mit den Hüften, während sie trank. Die Musik wurde wieder flotter, und beide wollten tanzen.
    »Das macht Ihnen doch nichts aus, oder?«, fragte Caroline entschuldigend. »Brenda will mich gern ein paar Leuten vorstellen.«
    »Nein, nein. Nur zu, gehen Sie ruhig tanzen«, sagte ich.
    »Ich bin auch nicht lange weg, versprochen.«
    »Schön, dass Caroline mal rauskommt und sich amüsiert«, meinte Graham zu mir, als die beiden verschwunden waren.
    Ich nickte. »Ja.«
    »Seht ihr einander oft?«
    »Na ja, sooft ich Zeit finde, schaue ich im Haus vorbei.«
    »Ja, natürlich«, erwiderte er, als habe er damit gerechnet, dass ich ihm noch mehr erzählen würde. Und dann senkte er vertraulich die Stimme: »Bei dem Bruder gibt es immer noch keine Fortschritte, nehme ich an?«
    Ich erzählte ihm von dem letzten Bericht, den ich von Dr. Warren erhalten hatte. Dann kam das Gespräch auf einige unserer Patienten, und schließlich gerieten wir in eine Diskussion über das geplante staatliche Gesundheitswesen. Der Mann aus Stratford war wie die meisten niedergelassenen Ärzte strikt dagegen; David Graham befürwortete die Einführung leidenschaftlich, während ich immer noch befürchtete, dass sie das Ende meiner medizinischen Karriere bedeuten könnte. Folglich verlief die Debatte sehr lebhaft und dauerte auch eine ganze Zeit. Immer mal wieder hob ich den Kopf und hielt nach Caroline auf der Tanzfläche Ausschau. Gelegentlich kehrten Brenda und sie auch an den Tisch zurück, um sich Wein nachzuschenken.
    »Alles klar?«, rief ich ihr dann zu. »Sie fühlen sich doch nicht von mir vernachlässigt?«
    Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Seien Sie nicht albern!«
    »Glaubst du wirklich, dass Caroline sich wohl fühlt?«, erkundigte ich mich bei Anne, während der Abend weiter voranschritt. »Ich habe das Gefühl, dass ich sie ziemlich vernachlässigt habe.«
    Sie blickte zu ihrem Mann hinüber und sagte etwas, was ich wegen der lauten Musik nicht ganz verstand, so ähnlich wie: »Ach, daran sind wir doch gewöhnt«, oder sogar: »Daran wird sie sich wohl gewöhnen müssen« – irgendeine Bemerkung jedenfalls, die mir den Eindruck vermittelte, dass sie mich missverstanden hatte. Doch als sie meinen verwirrten Gesichtsausdruck sah, fügte sie lachend hinzu: »Keine Sorge, Brenda wird sich schon um sie kümmern. Sie fühlt sich bestimmt wohl.«
    Dann, gegen halb zwölf, schnappte sich jemand das Mikrofon und kündigte einen Paul Jones an. Daraufhin strömten etliche Leute auf die Tanzfläche, und auch Graham und ich ließen uns überreden, an diesem Gruppentanz teilzunehmen. Unwillkürlich hielt ich wieder nach Caroline Ausschau und sah, wie sie

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