Der Besucher - Roman
werden könnten. Ich glaube, der Gedanke ist mir schon durch den Kopf gegangen, als Sie das erste Mal hierherkamen. Natürlich ist da der Altersunterschied, aber für einen Mann ist das ohne Belang, und Caroline ist viel zu vernünftig, um sich über solche Nebensächlichkeiten Sorgen zu machen … Aber bisher schienen Sie und Caroline lediglich gute Freude zu sein.«
»Ich hoffe doch, wir sind immer noch gute Freunde«, sagte ich.
»Aber offenbar doch mehr als gute Freunde.« Sie blickte zur Tür und runzelte nachdenklich die Stirn. »Wie verschlossen sie doch ist. Wahrscheinlich hätte sie mir nie etwas davon erzählt. Und dabei bin ich ihre Mutter!«
»Vielleicht, weil es kaum etwas zu erzählen gibt.«
»Ach, aber das ist doch keine Sache, die allmählich vonstattengeht. Man springt gewissermaßen über einen Bach. Ich will lieber nicht fragen, wann genau in diesem Falle der Bach überquert wurde.«
Ich rückte unbehaglich hin und her. »Vor kurzem erst.«
»Caroline ist natürlich volljährig. Und sie hatte immer schon ihren eigenen Kopf. Doch da ihr Vater tot ist und es ihrem armen Bruder so schlecht geht, fällt es wohl mir zu, Ihnen die entsprechenden Fragen zu stellen. Ob Sie auch ehrliche Absichten haben und so weiter. Wie altmodisch das klingt! Aber wenigstens haben Sie keinerlei Illusionen, was unsere finanzielle Lage anbelangt.«
Ich rutschte auf der Sesselkante hin und her. »Hören Sie, das ist mir alles ein wenig unangenehm. Am besten reden Sie mit Caroline selbst. Ich kann nicht für sie sprechen.«
Sie lachte kurz auf, ohne ein Lächeln zu zeigen. »Nein, das würde ich Ihnen auch nicht raten.«
»Um ehrlich zu sein, wäre ich froh, wenn wir das Thema fallen ließen. Ich muss wirklich gehen.«
Sie neigte den Kopf. »Natürlich, wenn Sie es wünschen.«
Doch ich blieb noch einen Moment sitzen und rang mit meinen Gefühlen. Ich war beunruhigt über die Wendung, die mein Besuch genommen hatte, und es betrübte mich, dass diese Angelegenheit – die mich mehr oder weniger aus heiterem Himmel getroffen hatte – plötzlich eine so offensichtliche Distanz zwischen uns geschaffen hatte. Schließlich stand ich unvermittelt auf und trat zu ihrem Sessel. Sie blickte zu mir hoch, und ich stellte mit Erschütterung fest, dass ihr Tränen in den Augen standen. Ihre Augenpartie wirkte dunkler und schlaffer, und ihr Haar – das ausnahmsweise einmal nicht von einer Mantilla oder einem Tuch bedeckt wurde – war von grauen Strähnen durchzogen.
Auch ihre aufgesetzte Fröhlichkeit war verschwunden. Mit einem Anflug ironischen Selbstmitleids sagte sie: »Ach, was soll bloß aus mir werden, Herr Doktor? Meine Welt schrumpft auf die Größe eines Stecknadelkopfes zusammen. Sie werden mich doch nicht ganz verlassen, Sie und Caroline?«
»Sie verlassen?« Kopfschüttelnd trat ich einen Schritt zurück und versuchte die ganze Sache als Unsinn abzutun. Doch mein Tonfall hörte sich in meinen eigenen Ohren genauso unecht an, wie ihre Stimme noch vor ein paar Minuten geklungen hatte. »Das ist doch alles vollkommen übereilt. Es hat sich doch nichts geändert. Nichts hat sich geändert, und niemand wird verlassen. Das kann ich Ihnen versprechen!«
Dann verabschiedete ich mich und ging benommen den Flur entlang, tief beunruhigt über die Wendung der Ereignisse und die Geschwindigkeit, mit der sie in einem so kurzen Zeitraum vorangeschritten waren. Ich glaube, mir kam gar nicht in den Sinn, Caroline hinterherzugehen. Ich begab mich einfach in Richtung Vordertür und zog im Gehen Hut und Schal an.
Doch als ich die Eingangshalle durchquerte, nahm ich irgendeine Bewegung oder ein Geräusch wahr. Ich blickte zum Treppenhaus hinauf und sah sie dort auf der ersten Empore stehen, gleich hinter der Windung des Treppengeländers. Das weiche Licht, das durch die Glaskuppel hereinfiel, ließ ihr braunes Haar fast blond erscheinen, doch ihr Gesicht lag im Halbdunkel.
Ich nahm den Hut wieder ab und trat zur untersten Stufe. Sie machte keinerlei Anstalten herunterzukommen, also rief ich leise zu ihr hinauf.
»Caroline! Es tut mir wirklich leid. Aber ich kann nicht länger bleiben. Bitte reden Sie doch mit Ihrer Mutter, ja? Sie hat … Sie befürchtet anscheinend, dass wir gemeinsam durchbrennen könnten.«
Sie antwortete nicht. Ich wartete und fügte dann noch leiser hinzu: »Wir sind doch nicht dabei, gemeinsam durchzubrennen, oder?«
Sie umklammerte eine der Geländersäulen und schüttelte fast unmerklich den
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