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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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nächsten Morgen in ihr Zimmer kam, war Mrs. Ayres bereits aufgestanden, hockte vor dem Kamin des Ankleidezimmers, stocherte mit einem Schürhaken an der verrosteten Klappe herum und versuchte, diese aufzustemmen.
    Im ersten Augenblick schien es Caroline, als habe ihre Mutter den Verstand verloren. Als sie dann begriffen hatte, was los war, half sie Mrs. Ayres vom Boden auf und übernahm selbst das Aufstemmen der Klappe. Nachdem es ihr gelungen war, diese zu öffnen, holte sie einen Besenstiel und stocherte im Kaminschacht herum, bis ihr der Arm wehtat. Schließlich hatte sie einen ganzen Schwung Ruß herabbefördert und war so schwarz wie ein Schornsteinfeger. Im Ruß war keine einzige Feder zu finden, doch Mrs. Ayres beharrte darauf, dass ein Vogel im Kamin eingeschlossen sei, und zeigte sich derart beunruhigt, dass Caroline sich reinigte und, ausgerüstet mit einem Opernglas, in den Garten ging, um den Schornstein von außen zu begutachten. Alle Schornsteinaufsätze auf dieser Seite des Hauses waren mit Drahtschutzgittern versehen; hier und dort war das Drahtgeflecht zwar zerrissen, aber so verklebt mit nassem Laub, dass es Caroline höchst unwahrscheinlich erschien, dass ein Vogel durch einen dieser Drahtkäfige in den Kaminschacht hätte gelangen können. Doch nachdem sie sich die Sache auf dem Weg zurück ins Haus hatte durch den Kopf gehen lassen, erzählte sie ihrer Mutter, dass der besagte Schornsteinaufsatz so aussähe, als sei dort kürzlich ein Nest gewesen. Sie sagte, sie hätte beobachtet, wie ein Vogel hineingeflogen und auch problemlos wieder herausgekommen sei. Das schien Mrs. Ayres ein wenig zu beruhigen, so dass sie sich anzog und frühstückte.
    Doch kaum eine Stunde später – Caroline war noch beim Frühstück in ihrem Zimmer – hörte sie ihre Mutter wieder aufschreien. Der Schrei klang so schrill und durchdringend, dass Caroline gleich über die Empore zu ihrer Mutter rannte. Mrs. Ayres stand vor der geöffneten Tür zum Ankleidezimmer und hatte die Arme ausgestreckt, als wolle sie sich vor etwas schützen, das dort drinnen war. Erst viel später kam es Caroline in den Sinn, dass ihre Mutter womöglich gar nichts hatte abwehren wollen; doch zunächst stürzte sie hastig zu Mrs. Ayres hin und dachte sich, diese sei vielleicht plötzlich krank geworden. Doch Mrs. Ayres war nicht krank, jedenfalls nicht im landläufigen Sinne. Sie ließ sich von Caroline zu einem Sessel führen und ein Glas Wasser reichen. Caroline kniete sich neben sie und hielt ihr die Hand. »Alles in Ordnung«, sagte Mrs. Ayres und wischte sich die tränenglänzenden Augen. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Das war wirklich dumm von mir, nach so langer Zeit.«
    Während sie sprach, blickte sie immer wieder hinüber zum Ankleidezimmer. Dabei war ihr Gesichtsausdruck so eigenartig – ängstlich besorgt und dennoch beinahe gierig –, dass Caroline Angst bekam.
    »Was ist denn da bloß, Mutter? Warum schaust du da hin? Was siehst du?«
    Mrs. Ayres schüttelte den Kopf und wollte ihr nicht antworten. Also stand Caroline auf und ging misstrauisch zu der geöffneten Tapetentür. Sie erzählte mir später, sie wisse nicht, was ihr eigentlich mehr Angst gemacht hätte: die Aussicht, in dem Zimmer dahinter irgendetwas Schreckliches zu finden – oder aber die Möglichkeit, die angesichts des seltsamen Benehmens ihrer Mutter durchaus wahrscheinlich schien, dass dort überhaupt nichts Ungewöhnliches war. Zunächst sah sie bloß ein Durcheinander von Kisten, die ihre Mutter offenbar von ihrem üblichen Platz gezogen hatte, um den Ruß abzustauben, der zuvor aus dem unverschlossenen Kamin daraufgeweht war. Dann fiel ihr Blick im Halbdunkel auf einen etwas dickeren Rußfleck unten auf der Wand, die durch das Beiseiterücken der Kisten zum Vorschein gekommen war. Sie trat dichter heran, und als sich ihre Augen an das schlechte Licht gewöhnt hatten, löste sich der dunkle Fleck in einzelne Zeichen eines kindlichen Gekrakels auf, genau wie die Kritzeleien, die sie kürzlich unten gesehen hatte:
     
    SSU SS SU
    SSU
    SSUCKY
SUCKeY
     
    Zunächst war sie völlig verblüfft über das Alter der Schmierereien. Sie waren offenbar sehr viel älter, als alle bisher angenommen hatten, und stammten mit Sicherheit nicht von der armen Gillian Baker-Hyde, sondern waren schon vor sehr viel längerer Zeit von irgendeinem anderen Kind hinterlassen worden. Hatte sie selbst vielleicht als Kind hier herumgekritzelt, fragte sie sich. Oder Roderick?

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