Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
Vom Netzwerk:
Boden auf und versuchte, sich den schlimmsten Schmutz abzuwischen. »So schnell hätten Sie doch gar nicht zu kommen brauchen«, sagte sie. »Ich habe noch gar nicht mit Ihnen gerechnet!«
    »Ich dachte, dass irgendetwas passiert wäre«, erwiderte ich. » Ist denn etwas passiert? Wo ist Ihre Mutter?«
    »Oben in ihrem Zimmer.«
    »Ist sie wieder krank?«
    »Nein, sie ist nicht krank. Wenigstens nicht … Ach … ich weiß auch nicht.«
    Sie suchte nach etwas, womit sie sich die Arme reinigen konnte, und griff schließlich nach einem Stück Zeitungspapier und rieb sich damit ohne große Wirkung ab. »Um Himmels willen!«, rief ich unwirsch und bot ihr mein Taschentuch an.
    Als sie das gestärkte weiße Stoffquadrat sah, protestierte sie: »Nein, das geht doch nicht …«
    »Jetzt nehmen Sie das verdammte Ding schon«, sagte ich und hielt es ihr hin. »Sie sind doch keine Dienstmagd, oder?« Und als sie immer noch zögerte, tauchte ich das Taschentuch in den Eimer mit dem schwarz verfärbten Wasser und rieb ihr, wahrscheinlich ein wenig grob, selbst die Arme und Hände sauber.
    Schließlich waren wir beide einigermaßen verdreckt, doch sie wenigstens war sauberer als zuvor. Sie krempelte die Ärmel herunter und meinte: »Setzen Sie sich doch. Kann ich Ihnen einen Tee anbieten?«
    Ich blieb stehen. »Sie können mir endlich erzählen, was los ist.«
    »Da gibt es nicht viel zu erzählen.«
    »Und dafür haben Sie mich den ganzen weiten Weg hierherkommen lassen?«
    »Den ganzen weiten Weg«, wiederholte sie leise.
    Ich verschränkte die Arme und sagte in etwas freundlicherem Tonfall: »Tut mir leid, Caroline. Sagen Sie doch bitte, was los ist.«
    »Es ist bloß so«, begann sie zögerlich und erzählte mir dann nach und nach, was seit meinem letzten Besuch vorgefallen war: das Auftauchen der Kritzeleien, zuerst im Saal und dann in der Eingangshalle; der »springende Ball« und der »Vogel im Kamin« und schließlich noch die letzte Kritzelei, die ihre Mutter im Ankleidezimmer entdeckt hatte. Um ehrlich zu sein, dachte ich mir zu diesem Zeitpunkt nicht viel dabei. Ich hatte die Kritzeleien noch nicht mit eigenen Augen gesehen, doch selbst als ich später in den Salon ging und mir die geisterhaften, ungleichmäßigen S -Zeichen anschaute, fand ich sie nicht besonders beunruhigend. Nun sagte ich als Antwort auf Carolines Bericht: »Aber ist es nicht klar, was geschehen ist? Diese Zeichen müssen schon lange dort gewesen sein … an die dreißig Jahre. Der Holzanstrich wird offenbar dünner, und dadurch sind sie wieder sichtbar geworden. Wahrscheinlich ist das durch die Feuchtigkeit gekommen. Von daher ist es auch kein Wunder, dass man die Kritzeleien nicht abreiben kann: Vermutlich ist immer noch eine dünne Schicht Firnis darüber, gerade so viel, dass sie darunter versiegelt sind.«
    »Ja«, sagte sie mit zweifelndem Gesichtsaudruck. »Das könnte schon sein. Aber was ist mit diesem Knarren oder Pochen – oder wie immer Sie das nennen wollen.«
    »In diesem Haus knarrt es wie auf einer Galeone. Das habe ich selbst schon oft genug gehört.«
    »Aber so hat es noch nie geknarrt!«
    »Vielleicht ist es auch noch nie so lange feucht gewesen. Und mit Sicherheit ist das Haus auch noch nie in einem so schlechten Zustand gewesen. Vielleicht verschieben sich ja die Holzbalken.«
    Sie sah immer noch skeptisch aus. »Aber ist es nicht eigenartig, wie uns das Klopfen zu den Kritzeleien geführt hat?«
    »In diesem Haus haben drei kleine Kinder gewohnt«, erwiderte ich. »Da könnte praktisch auf jeder Wand Gekritzel sein … Es ist auch möglich«, fügte ich noch hinzu, während mir ein neuer Gedanke durch den Kopf ging, »dass Ihre Mutter wusste, wo die zweite und dritte Stelle mit den Kritzeleien waren – wie eine Art längst vergessene Erinnerung, meine ich. Als sie die Kritzeleien im Saal entdeckt hat, ist dadurch vielleicht ein Erinnerungsvorgang angestoßen worden. Und als dann das Knarren anfing, hat sie vielleicht unbewusst die Suche in eine bestimmte Richtung gelenkt.«
    »Aber sie kann nicht selbst diese Klopfgeräusche gemacht haben. Ich habe das Klopfen in der Wand gespürt!«
    »Das kann ich zugegebenermaßen auch nicht erklären – ich nehme aber an, dass Sie mit Ihrem ersten Einfall recht hatten: Das Geräusch wurde von Mäusen oder Holzwürmern oder irgendeinem anderen Tier verursacht und irgendwie durch die hohlen Wände verstärkt. Und was den eingeschlossenen Vogel anbelangt …« Ich senkte die Stimme. »Ich

Weitere Kostenlose Bücher