Der Besucher - Roman
der Praxis alleinzulassen; dann stellte ich mir wiederum die zynische Frage, was mich eigentlich in Lidcote hielt und ob mich überhaupt jemand vermissen würde, wenn ich von dort fortginge.
Das Örtchen kam mir furchtbar eng und rückständig vor, als ich vom Bahnhof nach Hause ging. Noch dazu handelte es sich bei den Fällen, die auf mich warteten, ausschließlich um typische Krankheiten auf dem Lande: Arthritis, Bronchitis, Rheuma, Erkältungen … Plötzlich kam es mir so vor, als hätte ich mein ganzes Leben lang nichts anderes getan, als vergeblich gegen die ungünstigen Umstände zu kämpfen, die diese Krankheiten verursachten. Die einzigen beiden Fälle, die vom Schema abwichen, waren in anderer Hinsicht deprimierend: Eine Dreizehnjährige aus der Arbeiterschicht hatte sich schwängern lassen und war daraufhin von ihrem Vater schwer verprügelt worden. Dann war da noch der Sohn eines Häuslers, der an Lungenentzündung erkrankt war. Als ich die Familie aufsuchte, traf ich auf einen stark ausgemergelten, schwer kranken Jungen, eines von acht Kindern, die alle auf die eine oder andere Art krank waren; der Vater war versehrt und hatte keine Arbeit. Mutter und Großmutter hatten den Jungen bereits mit fragwürdigen Hausmitteln behandelt und ihm frisch abgezogene Kaninchenfelle auf die Brust gelegt, »um den Husten rauszuziehen«. Ich verschrieb ihm ein Penicillin, das ich mehr oder weniger aus der eigenen Tasche bezahlte. Doch ich zweifelte daran, ob sie es überhaupt verwenden würden. Sie starrten die Flasche misstrauisch an und meinten, »das Zeugs« würde ihnen gar nicht gefallen, »es sei so gelb«. Ihr behandelnder Arzt war Dr. Morrison, und seine Lösung sei immer rot.
In niedergedrückter Stimmung verließ ich das armselige Häuschen und nahm auf dem Nachhauseweg die Abkürzung durch den Park von Hundreds Hall. Eigentlich hatte ich vorgehabt, im Herrenhaus vorbeizuschauen. Zu dem Zeitpunkt war ich schon seit drei Tagen wieder aus London zurück und hatte noch immer keinerlei Kontakt zu den Ayres aufgenommen. Doch als ich näher heranfuhr und die verwitterten, beschädigten Fassaden des Hauses sah, stieg eine Welle wütender Enttäuschung in mir empor; ich trat aufs Gaspedal und fuhr weiter. Dann redete ich mir ein, dass ich viel zu viel zu tun hätte und es ohnehin keinen Sinn hätte, nur eben anzuklopfen, um dann gleich weiterfahren zu müssen.
Das Gleiche sagte ich mir auch, als ich das nächste Mal durch den Park fuhr – und auch beim übernächsten Mal. Daher hatte ich auch keine Ahnung von den jüngsten Stimmungsveränderungen auf Hundreds Hall, bis Caroline mich einige Tage später anrief und mich bat, ob ich vielleicht kurz vorbeikommen und, wie sie es ausdrückte, »mich vergewissern könnte«, ob meiner Meinung nach »alles in Ordnung sei«.
Sie rief mich nur sehr selten an, daher überraschte mich ihr Anruf. Als ich so unerwartet ihre tiefe, klare Stimme hörte, empfand ich eine Art wohligen Schauer, der sich jedoch gleich darauf in Besorgnis verwandelte. Ob irgendetwas vorgefallen sei, fragte ich. Nein, alles sei in Ordnung, erwiderte sie vage. Sie hätten bloß ein paar Probleme mit eindringendem Regenwasser gehabt, aber das sei alles behoben. Und ging es ihr gut? Und ihrer Mutter? Ja, beiden ginge es recht gut. Da gäbe es bloß ein oder zwei Dinge, zu denen sie meine Meinung hören wollte, wenn ich »die Zeit erübrigen« könne.
Mehr wollte sie nicht sagen. Eine Welle des schlechten Gewissens stieg in mir empor, und ich machte mich beinahe unverzüglich auf den Weg zum Herrenhaus und schob dafür den Besuch bei einem Patienten nach hinten. Ich fragte mich besorgt, was mich wohl auf Hundreds Hall erwartete, und vermutete, dass sie mir gewichtigere Dinge mitzuteilen hatte, die sie am Telefon nicht sagen konnte. Doch bei meiner Ankunft fand ich Caroline im kleinen Salon bei einer ziemlich alltäglichen Verrichtung vor. Das Zimmer war nicht erleuchtet, und sie kniete neben einem Wassereimer und ein paar alten Zeitungen vor dem Kamin, formte eine Art Pappmachébälle aus der Zeitung und rollte sie im Kohlestaub, um sie dann im Kamin zu verbrennen.
Sie hatte die Ärmel bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt, ihre Unterarme waren schmutzig, und das Haar hing ihr unordentlich ins Gesicht. Sie sah aus wie eine Dienstbotin und erinnerte in ihrer Haltung am Boden an ein hässliches Aschenputtel. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund versetzte mich ihr Anblick in Wut.
Sie stand ungelenk vom
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