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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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Sie dachte an Cousins und Cousinen, an die Kinder befreundeter Familien … Dann betrachtete sie wieder die Buchstaben, und plötzlich zog sich ihr Herz zusammen, und sie verstand, warum ihre Mutter geweint hatte. Zu ihrer eigenen Verblüffung merkte sie, dass ihr die Röte ins Gesicht stieg. Sie musste bestimmt eine Minute oder länger in dem kleinen dunklen Raum ausharren, bis sie das Gefühl hatte, dass ihr Gesicht wieder seine normale Farbe besaß.
    »Na ja«, sagte sie, nachdem sie endlich wieder zu ihrer Mutter zurückgekehrt war. »Wenigstens können wir jetzt sicher sein, dass es nicht die Tochter der Baker-Hydes war.«
    »Das habe ich auch nie geglaubt«, erwiderte Mrs. Ayres bloß.
    Caroline blieb neben ihr stehen. »Es tut mir leid, Mutter.«
    »Weswegen sollte dir etwas leidtun?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Dann sag so etwas auch nicht.« Mrs. Ayres stieß einen Seufzer aus. »Dieses Haus scheint uns gerne unangenehme Überraschungen zu bereiten, nicht wahr? Als ob es alle unsere wunden Punkte kennt und sie reizen will, einen nach dem anderen … Ach Gott, ich bin so furchtbar müde!« Sie faltete ihr Taschentuch zusammen, presste es sich an die Stirn und schloss die Augen.
    »Kann ich irgendetwas für dich tun? Oder dir etwas bringen?«, fragte Caroline. »Warum legst du dich nicht noch ein bisschen ins Bett?«
    »Ich bin selbst meines Bettes müde.«
    »Dann bleib doch in deinem Sessel sitzen und döse ein bisschen. Ich lege noch ein paar Scheite aufs Feuer.«
    »Wie eine Greisin«, murrte Mrs. Ayres.
    Doch sie blieb erschöpft in ihrem Sessel sitzen, während Caroline sich um das Feuer kümmerte, und als die Flammen an den Scheiten emporschlugen, hatte Mrs. Ayres den Kopf zurückgelehnt und schien zu dösen. Caroline betrachtete sie einen Moment lang und war betroffen über die Falten, die Alter und Trauer in ihr Gesicht gegraben hatten. Mit dem Schrecken, der junge Leute gelegentlich befällt, wenn sie ihre Eltern als Individuen betrachten, sah sie plötzlich ihre Mutter als eigenständigen Menschen mit Gefühlsregungen und Erfahrungen, die ihr fremd waren, und mit einer kummervollen Vergangenheit, die sie nicht ergründen konnte. Das Einzige, was sie jetzt für ihre Mutter tun konnte, so dachte sie, war, es ihr so bequem wie möglich zu machen. Also bewegte sie sich leise durch das Zimmer, zog die Vorhänge halb vor, schloss die Tapetentür zum Ankleidezimmer und legte noch eine Decke über das Tuch, das schon auf den Knien ihrer Mutter lag. Dann ging sie nach unten. Sie erwähnte den Vorfall weder Betty noch Mrs. Bazeley gegenüber, doch da sie das Bedürfnis nach Gesellschaft hatte, suchte sie sich ein paar Arbeiten in der Küche. Als sie einige Zeit später wieder einen Blick ins Schlafzimmer warf, fand sie ihre Mutter in tiefem Schlaf vor – in unveränderter Haltung, wie es schien.
    Irgendwann zwischendurch musste Mrs . Ayres jedoch aufgewacht sein, denn die Decke lag in einem Haufen am Boden, als sei sie zur Seite geschoben worden oder herabgefallen, und Caroline bemerkte, dass die Tür zum Ankleidezimmer, die sie selbst fest geschlossen hatte, wieder offen stand.
     
    Währenddessen befand ich mich immer noch in London. In der dritten Februarwoche kehrte ich mit gemischten Gefühlen wieder nach Hause zurück. Meine Reise nach London war in vielerlei Hinsicht ein großer Erfolg gewesen. Mein Vortrag auf der Konferenz war positiv aufgenommen worden, ich hatte die Zeit am Londoner Krankenhaus gut genutzt und freundschaftliche Kontakte zu den Mitarbeitern geknüpft, und tatsächlich hatte mich an meinem letzten Tag einer der Ärzte beiseitegenommen und mich gefragt, ob ich mir nicht vorstellen könnte, in Zukunft ebenfalls bei ihnen auf Station zu arbeiten. Ebenso wie ich hatte er den Weg in die Medizin aus einfachen Verhältnissen gefunden. Er war entschlossen, »den Krankenhausmuff ein wenig aufzuwirbeln«, und arbeitete daher am liebsten mit Ärzten »von draußen, die nicht aus dem System kommen«. Mit anderen Worten: Er war der Typ Mann, als den ich mich selbst einmal betrachtet hatte. Doch hatte er es mit dreiunddreißig bereits zum leitenden Oberarzt gebracht, während ich, der ein paar Jahre älter war, noch nichts Weltbewegendes geleistet hatte. Auf der Zugfahrt zurück nach Warwickshire dachte ich über seinen Vorschlag nach und fragte mich, ob ich den Erwartungen, die er in mich setzte, gerecht werden konnte. Ich überlegte, ob ich ernsthaft in Erwägung ziehen könnte, David Graham mit

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