Der Besucher - Roman
aber hübsch, Madam!«
»Damals gab es eben noch Qualitätsarbeit! Und diese Farben! Solche Farben findet man heute gar nicht mehr. Was hast du denn da, Betty?«
»Hausschuhe, Madam. Goldene.«
»Lass mich mal schauen.« Mrs. Ayres nahm die Schachtel, hob den Deckel ab und schlug das Seidenpapier zurück. »Ach ja – die haben damals ein Vermögen gekostet! Und dabei haben sie ganz furchtbar gedrückt, wenn ich mich recht erinnere. Ich habe sie nur ein einziges Mal getragen.« Sie hielt die Schuhe in die Höhe. Dann sagte sie, einer plötzlichen Eingebung folgend: »Zieh du sie mal an, Betty!«
»Oh, Madam!« Betty wurde knallrot und warf einen verlegenen Blick in meine Richtung. »Soll ich wirklich?«
»Ja, los. Zeig dem Doktor und mir mal, wie sie dir stehen.«
Also schnürte das Mädchen ihre derben schwarzen Schuhe auf und schlüpfte verlegen in die goldenen Lederhausschühchen; dann stolzierte sie, ermutigt von Mrs. Ayres, wie ein Mannequin von der Tür des Ankleidezimmers zum Kamin und wieder zurück. Dabei musste sie selbst lachen und hielt sich die Hand vor den Mund, um ihre schiefen Zähne zu verbergen. Mrs. Ayres lachte ebenfalls herzlich, und als Betty stolperte, weil ihr die Schuhe zu groß waren, stopfte Mrs. Ayres den Zehenbereich mit Strümpfen aus, bis sie ihr passten. Damit verbrachte sie einige Zeit, dann zog sie dem Mädchen Handschuhe und eine Stola an, ließ sie hin und her schreiten und applaudierte ihr dabei.
Ich musste wieder an den Patienten denken, der auf mich wartete. Doch nach ein oder zwei Minuten schien Mrs. Ayres der Modenschau plötzlich müde zu werden. Sie seufzte, betrachtete das Durcheinander auf dem Bett und sagte zu Betty: »Du räumst jetzt besser die Sachen hier weg, sonst weiß ich gar nicht, wo ich heute Nacht schlafen soll.«
»Können Sie denn im Moment gut schlafen?«, erkundigte ich mich, während wir uns an den Kamin setzten. Und als ich sah, wie Betty mit einem Arm voller Pelze im Ankleidezimmer verschwand, fügte ich leise hinzu: »Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel . Aber Caroline hat mir von Ihrer … Entdeckung in der letzten Woche erzählt. Wie ich gehört habe, hat Sie das ziemlich aufgeregt.«
Sie beugte sich vor und hob ein Kissen auf. »Ja, das hat es tatsächlich«, erwiderte sie. »Ist das nicht albern von mir?«
»Nein, ganz und gar nicht.«
»Nach so langer Zeit!«, murmelte sie, lehnte sich zurück und blickte zu mir auf. Ihr Gesichtsausdruck überraschte mich, denn er zeigte keine Spur von Sorge oder Schmerz, sondern wirkte beinahe abgeklärt. »Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es noch irgendwo Spuren von ihr gäbe, wissen Sie.« Sie legte sich die Hand aufs Herz. »Außer hier drinnen. Hier drinnen ist sie für mich immer lebendig geblieben. Manchmal lebendiger als alles andere …«
Sie ließ die Hand auf der Brust ruhen und strich vorsichtig über den Stoff ihres Kleides. Ihr Blick war gedankenverloren in die Ferne gerichtet, doch gehörte eine gewisse Zerstreutheit nun mal zu ihrem Wesen und machte einen Teil ihres Charmes aus. Folglich kam mir an ihrem Verhalten auch nichts ungewöhnlich oder beunruhigend vor; ich fand, dass sie recht gesund und zufrieden wirkte. Ich verbrachte eine gute Viertelstunde bei ihr, dann ging ich wieder nach unten.
Caroline war noch immer da, wo ich sie zurückgelassen hatte, und stand in schlaffer Haltung neben dem Kamin. Das Feuer war heruntergebrannt, das Licht noch schwächer als zuvor, und ich wurde mir erneut bewusst, wie groß der Kontrast zwischen der Trostlosigkeit dieses Raums und der behaglichen Atmosphäre im Zimmer ihrer Mutter war. Und wieder regte mich ihr Anblick mit diesen Dienstbotenhänden über Gebühr auf.
»Und?«, fragte sie mich.
»Ich glaube, Sie machen sich völlig unnötige Sorgen«, sagte ich.
»Was macht meine Mutter denn gerade?«
»Sie hat mit Betty einige alte Kleidungsstücke durchgesehen.«
»Ja. Das ist alles, was sie in letzter Zeit tun will. Die alten Erinnerungen. Gestern hat sie wieder die alten Fotografien herausgeholt; die, die feucht geworden sind – Sie erinnern sich vielleicht noch?«
Ich streckte die Hände in einer hilflosen Geste aus. »Warum sollte sie sich denn keine alten Fotos anschauen? Wollen Sie ihr verübeln, dass sie an die Vergangenheit denken möchte, wenn die Gegenwart ihr so wenig Freude bietet?«
»Das ist es nicht.«
»Was ist es denn dann?«
»Es ist irgendetwas in ihrem Verhalten. Sie denkt nicht bloß an die Vergangenheit.
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