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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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nehme an, Ihnen ist auch schon in den Sinn gekommen, dass Ihre Mutter sich die ganze Sache bloß eingebildet haben könnte.«
    »Ja, der Gedanke ist mir auch schon gekommen«, sagte sie leise. »Mutter hatte zu dem Zeitpunkt kaum geschlafen . Aber ihr zufolge war es der Vogel, der sie wach gehalten hat. Und vergessen Sie nicht: Betty hat das Geräusch ebenfalls gehört!«
    »Ich glaube, Betty würde mitten in der Nacht so ungefähr jedes Geräusch hören, das man ihr suggeriert«, sagte ich. »Diese Dinge wirken wie ein selbstverstärkender Kreislauf. Irgendetwas hat Ihre Mutter sicher geweckt, kein Zweifel. Aber dann hat ihre Schlaflosigkeit sie wach gehalten – oder sie hat geträumt, sie sei wach gewesen –, und schließlich war ihr Gemüt übermäßig empfänglich.«
    »Ich glaube, es ist auch jetzt noch ziemlich empfänglich«, sagte sie.
    »Wie meinen Sie das?«
    Sie zögerte. »Ich weiß nicht. Sie kommt mir irgendwie … verändert vor.«
    »In welcher Hinsicht?«, fragte ich.
    Vermutlich klang aus meiner Stimme ein gewisser Überdruss, denn es schien mir plötzlich, als hätten sie und ich diese Unterhaltung so oder ähnlich schon etliche Male geführt. Sie wandte sich – offensichtlich enttäuscht – von mir ab und sagte: »Ach, ich weiß nicht. Vielleicht bilde ich mir da auch bloß etwas ein.«
    Mehr wollte sie nicht sagen. Ich betrachtete sie gleichfalls mit einer gewissen Enttäuschung und sagte schließlich, ich würde hinaufgehen und nach ihrer Mutter schauen, und nahm meine Tasche.
    Während ich die Treppe emporstieg, plagten mich üble Vorahnungen, denn nach Carolines Andeutungen ging ich davon aus, dass Mrs. Ayres ziemlich krank aussehen, vielleicht sogar wieder im Bett liegen würde. Doch als ich an ihre Tür klopfte, hörte ich, wie sie gutgelaunt rief, ich solle eintreten. Die Vorhänge waren fast gänzlich geschlossen, doch im Gegensatz zum kleinen Salon brannten im Zimmer zwei oder drei Lampen, und im Kamin flackerte ein ordentliches Feuer. In der Luft lag ein altjüngferlicher Geruch nach Kampfer. Die Tür zum Ankleidezimmer stand sperrangelweit offen, und auf dem Bett türmten sich Abendkleider und Pelze sowie die Seidenbeutel, in denen die Pelze aufbewahrt wurden und die nun an entleerte Blasen erinnerten. Mrs. Ayres blickte von ihrer Tätigkeit auf, als ich hereinkam, und schien sich über meinen Besuch sehr zu freuen. Sie und Betty seien gerade dabei, einige ihrer alten Kleidungsstücke durchzusehen, erklärte sie mir.
    Weder erkundigte sie sich nach meiner Reise, noch schien es ihr irgendwie merkwürdig vorzukommen, dass ich gerade längere Zeit unten allein mit ihrer Tochter gewesen war. Sie reichte mir die Hand, führte mich zu ihrem Bett und zeigte mir den Kleiderhaufen.
    »Ich hatte während des Krieges so ein schlechtes Gewissen, all diese Sachen zu behalten«, sagte sie. »Das meiste habe ich schon weggegeben, aber von einigen dieser Kleider konnte ich mich einfach nicht trennen – die Vorstellung, dass sie dann einfach zerschnippelt und in Decken für Flüchtlinge oder weiß der Himmel was umgewandelt würden … Nun bin ich gottfroh, dass ich sie behalten habe. Finden Sie das sehr verwerflich?«
    Ich lächelte und freute mich, dass sie wieder so gut aussah, sie schien wieder ganz die Alte. Ich war zwar immer noch ein wenig erschrocken über die vielen grauen Strähnen in ihrem Haar, doch sie hatte es sehr sorgfältig frisiert, wenn auch in einem eigenartigen Vorkriegsstil, mit ziemlich voluminösen, ondulierten Wellen um die Ohren. Ihre Lippen zierte ein Hauch Lippenstift, die Fingernägel waren zartrosa lackiert, und die Haut ihres herzförmigen Gesichts wirkte beinahe faltenfrei.
    Ich wandte mich dem Haufen altmodischer Seidenkleider zu. »Man kann sich in der Tat nur schwerlich vorstellen, dass die in einem Flüchtlingslager verteilt werden.«
    »Ja, nicht wahr? Da ist es doch besser, sie hierzubehalten, wo sie richtig gewürdigt werden.« Sie griff nach einem dünnen Satinhängerchen im Stil der zwanziger Jahre und hielt es empor, um es Betty zu zeigen, die gerade mit einem Schuhkarton in der Hand aus dem Ankleidezimmer kam. »Was sagst du dazu, Betty?«
    Das Mädchen sah mich, und ich nickte ihr zu. »Hallo, Betty, alles in Ordnung?«
    »Hallo, Sir.« Ihr Gesicht war leicht gerötet, und sie wirkte freudig erregt. Sie versuchte zwar, ihre Aufregung zu verbergen, doch als sie das Kleid betrachtete, verzog sich ihr plumper kleiner Mund zu einem breiten Lächeln. »Das is

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