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Der Besucher - Roman

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Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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Wenn sie uns anschaut, ist es so, als ob sie uns gar nicht richtig sieht. Sie sieht irgendetwas anderes … Und sie wird so schnell müde. Sie ist doch noch gar nicht alt, aber sie legt sich jetzt fast jeden Nachmittag hin, wie eine alte Dame. Über Roderick spricht sie gar nicht mehr. Sie interessiert sich nicht für Dr. Warrens Berichte. Sie will niemanden sehen … Ach, ich weiß auch nicht, wie ich es richtig erklären soll.«
    »Sie hat eben einen kleinen Schock erlitten. Als sie diese Kritzeleien gefunden hat, hat sie das wieder an Ihre Schwester erinnert. Es ist doch klar, dass sie das aufgewühlt hat.«
    Während ich das sagte, wurde mir klar, dass Caroline und ich praktisch noch nie über Susan geredet hatten, das tote kleine Mädchen. Das Gleiche muss ihr auch durch den Kopf gegangen sein; sie stand schweigend da, hob ihre schmutzigen Finger zum Mund und zupfte an ihren Lippen herum. Als sie endlich sprach, klang ihre Stimme ganz verändert.
    »Es ist komisch, wenn Sie sagen ›Ihre Schwester‹«, sagte sie. »Es klingt irgendwie nicht richtig. Wissen Sie, Mutter hat sie nie erwähnt, als Rod und ich klein waren. Jahrelang habe ich überhaupt nichts von ihrer Existenz gewusst. Dann bin ich eines Tages auf ein Buch gestoßen, in dem vorne drin ›Sukey Ayres‹ stand, und ich habe Mutter gefragt, wer das sei. Sie hat so seltsam reagiert, dass ich richtig Angst bekam. Vater hat mir dann alles erzählt. Er hat es als ›großes Unglück‹ bezeichnet. Doch ich kann mich nicht erinnern, dass ich Mitleid für ihn oder Mutter empfunden hätte. Ich weiß bloß noch, dass ich unheimlich wütend war, weil alle mir immer gesagt hatten, ich sei das älteste Kind, und das nun gar nicht mehr stimmte.« Sie starrte ins Feuer und runzelte die Stirn. »Ich glaube, als Kind war ich ständig wütend oder verärgert. Ich war gemein zu Roddie, und auch gegenüber den Dienstmädchen habe ich mich abscheulich benommen. Eigentlich heißt es doch, man würde dem entwachsen. Aber ich glaube, ich bin meinem abscheulichen Benehmen nie ganz entwachsen. Manchmal denke ich, die Gemeinheit steckt immer noch in mir drinnen, wie etwas Scheußliches, was ich mal verschluckt habe und was immer noch irgendwo festhängt.«
    In diesem Augenblick sah sie tatsächlich aus wie ein bockiges Kind, mit ihren schmutzigen Fingern und dem ungekämmten Haar, das ihr ins Gesicht fiel. Genau wie andere missmutige Kinder strahlte sie jedoch auch eine traurige Verzweiflung aus. Ich machte halbherzige Anstalten, mich in ihre Richtung zu bewegen. Sie hob den Kopf und muss wohl mein Zögern bemerkt haben.
    Sofort war ihr Anflug von kindlichem Trotz wie weggeblasen. In einem unnahbaren Plauderton sagte sie: »Ich habe mich noch gar nicht erkundigt, wie Ihre Reise nach London verlaufen ist. Wie war es denn?«
    »Danke, alles ist gut gegangen«, erwiderte ich.
    »Sie haben Ihren Vortrag auf der Konferenz gehalten?«
    »Ja, das habe ich.«
    »Und hat den Leuten gefallen, was Sie zu berichten hatten?«
    »Ja, sehr. Um ehrlich zu sein …« Ich zögerte einen Moment. »Also, man hat mir sogar vorgeschlagen, wieder nach London zu kommen. Um dort zu arbeiten, meine ich.«
    Ihr Blick veränderte sich und schweifte nervös hin und her. »Ach, tatsächlich. Und haben Sie das vor?«
    »Ich weiß es nicht. Ich muss erst noch … darüber nachdenken. Was ich alles … aufgeben würde.«
    »Und deshalb haben Sie sich so lange von uns ferngehalten? Weil Sie nicht abgelenkt werden wollten? Ich habe am Samstag Ihr Auto im Park gesehen. Ich hatte eigentlich gedacht, dass Sie vorbeischauen würden. Und als Sie nicht kamen, habe ich vermutet, dass irgendetwas passiert sein muss. Dass sich irgendwas verändert hat. Deshalb habe ich Sie heute auch angerufen, weil ich nicht mehr damit gerechnet habe, dass Sie noch einmal vorbeikommen. So wie Sie es sonst immer getan haben, meine ich.« Sie schob sich die herabhängende Haarsträhne hinter die Ohren. »Wollten Sie uns überhaupt noch mal besuchen?«
    »Aber natürlich!«
    »Aber Sie haben sich absichtlich ferngehalten. Das stimmt doch, oder?«
    Sie hob trotzig das Kinn, mehr nicht. Doch wie sich hartnäckige Milch schließlich dem Quirl beugt und ihre Beschaffenheit verändert, so verwandelte sich auch mein Zorn und wich einem gänzlich anderen Gefühl. Mein Herz schlug schneller, und nach kurzem Zögern sagte ich: »Ich glaube, ich hatte ein bisschen Angst.«
    »Angst? Wovor denn? Vor mir?«
    »Das wohl kaum.«
    »Vor meiner

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