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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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Mutter?«
    Ich holte tief Luft. »Hören Sie, Caroline. Neulich im Auto, das …«
    »Ach, das!« Sie wandte den Kopf ab. »Da habe ich mich wie eine Idiotin benommen.«
    »Nein, ich war der Idiot. Es tut mir leid.«
    »Und jetzt ist alles anders und irgendwie falsch … Nein, bitte lassen Sie das …«
    Sie hatte so unglücklich ausgesehen, dass ich zu ihr getreten war und sie umarmen wollte. Obwohl sie im ersten Augenblick steif und widerspenstig wirkte, entspannte sie sich ein wenig, als ihr klar wurde, dass ich wirklich nichts anderes vorhatte, als die Arme um sie zu legen. Das letzte Mal hatte ich sie so gehalten, als wir tanzten; da hatte sie hohe Absätze getragen, und ihre Augen und ihr Mund waren auf Höhe meines Gesichts gewesen. Nun trug sie flache Schuhe und war ein paar Zentimeter kleiner: Ich hob das Kinn und berührte mit den Bartstoppeln ihr Haar. Sie neigte den Kopf, ihre kühle, trockene Braue bewegte sich in die Ausbuchtung neben meinem Ohr … Und dann stand sie plötzlich ganz dicht bei mir. Ich spürte ihre vollen, drängenden Brüste, den Druck ihrer Hüften und kräftigen Oberschenkel. Ich fuhr mit den Händen an ihrem Rücken hinab und presste sie noch enger an mich. »Nein, bitte nicht …«, sagte sie wieder, wenn auch sehr viel weniger eindringlich.
    Die Heftigkeit meiner zärtlichen Gefühle überraschte mich selbst. Gerade eben hatte ich sie noch angeschaut und nichts als verzweifelten Zorn empfunden. Nun hauchte ich ihr mit belegter Stimme ihren Namen ins Haar und rieb meine Wange an ihrem Kopf.
    »Ich habe dich vermisst, Caroline!«, sagte ich. »Mein Gott, es war die Hölle.« Ich wischte mir unsicher den Mund. »Schau mich an! Sieh, was du für einen Narren aus mir gemacht hast!«
    »Tut mir leid.« Sie versuchte sich mir zu entziehen.
    Ich umklammerte sie fester. »Das braucht dir doch nicht leidzutun, um Himmels willen!«
    Sie sagte traurig: »Ich habe dich auch vermisst. Jedes Mal, wenn du fortgehst, geschieht hier etwas Schreckliches. Warum ist das bloß so? Dieses Haus – und meine Mutter …« Sie schloss die Augen und presste die Hand an die Stirn, wie bei einer schlimmen Kopfschmerzattacke. »Dieses Haus lässt einen Dinge denken.«
    »Dieses Haus ist zu viel für dich.«
    »Ich hätte fast Angst bekommen.«
    »Es gibt nichts, wovor du Angst haben müsstest. Ich hätte dich nicht alleinlassen sollen.«
    »Ich … Ich wünschte, ich könnte fortgehen. Aber das kann ich nicht, nicht solange Mutter noch hier ist.«
    »Denk jetzt nicht an deine Mutter. Und auch nicht daran fortzugehen. Du brauchst nicht fortzugehen.«
    Und auch ich brauchte nicht fortzugehen. Denn nun, mit Caroline in meinen Armen, war plötzlich alles vollkommen klar. Meine Pläne, der Oberarzt, das Londoner Krankenhaus … alles war vergessen. »Ich habe mich wie ein Idiot benommen«, sagte ich. »Alles, was wir beide brauchen, haben wir doch hier. Denk darüber nach, Caroline. Denk über mich nach. Über uns.«
    »Nein, lass das. Es könnte jemand kommen …«
    Ich hatte begonnen, sie mit meinen Lippen zu bedrängen. Doch dabei gerieten wir ins Schwanken und mussten die Füße bewegen, um das Gleichgewicht wiederzufinden. Plötzlich standen wir nicht mehr so dicht zusammen. Sie trat einen Schritt zurück und hob eine ihrer schmutzigen Hände. Ihr Haar war von der Reibung meiner Wange noch unordentlicher als vorher; ihre Lippen waren leicht geöffnet und ein wenig feucht. Sie sah aus wie eine Frau, die gerade geküsst worden war und die – um ehrlich zu sein – noch einmal geküsst werden will. Doch als ich mich ihr wieder näherte, machte sie einen weiteren Schritt zurück, und etwas anderes schien sich in ihr Begehren zu mischen – eine Art Unschuld oder gar Widerwillen, vielleicht sogar eine Spur von Angst. Deshalb versuchte ich nicht noch einmal, sie zu umarmen. Ich hatte Sorge, dass ich sie sonst ganz verschrecken würde. Stattdessen nahm ich eine ihrer Hände und hob die schmutzigen Finger an meine Lippen. Und während ich ihre Finger betrachtete und mit dem Daumen über ihre schwarzen Nägel rieb, sagte ich kühn, mit begehrlichem Beben in der Stimme: »Sieh nur, was du da angestellt hast! Du Schmuddelkind! So etwas wird nicht mehr vorkommen, wenn wir erst mal verheiratet sind!«
    Sie sagte nichts. Ich wurde mir vage der Stille bewusst, die uns umgab; das Haus war so ruhig, als würde es den Atem anhalten. Dann neigte Caroline ganz leicht den Kopf – und daraufhin zog ich sie in einer Woge des

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