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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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erst seit sehr kurzer Zeit überhaupt einen Gewinn. Und nun, wo die Einführung des staatlichen Gesundheitswesens drohte, schien es für private Arztpraxen kaum mehr eine Zukunft zu geben. Zu allem Überfluss würden meine ärmeren Patienten bald die Möglichkeit haben, sich einen anderen Arzt zu suchen, und dadurch mein Einkommen drastisch reduzieren. Ich hatte schon etliche schlaflose Nächte darüber nachgegrübelt.
    »Ich werde sie noch alle verlieren«, sagte ich auch jetzt zu Graham, stützte die Ellbogen auf den Tisch und rieb mir müde das Gesicht.
    »Unsinn«, erwiderte er. »Deine Patienten haben doch gar keinen Grund, sich einen neuen Arzt zu suchen. Wieso solltest du deine Patienten eher verlieren als ich oder Seeley oder Morrison?«
    »Morrison verschreibt ihnen so viel Hustensaft und Lebersalze, wie sie wollen«, sagte ich. »Das gefällt ihnen. Seeley hat geschliffene Manieren und Schlag bei den Damen. Du bist der nette, gut aussehende Familienvater; auch das gefällt ihnen. Mich mögen sie nicht. Das haben sie noch nie. Sie können mich in keine Schublade einordnen. Ich jage weder noch spiele ich Bridge. Aber ich spiele auch kein Darts oder Fußball. Dem Landadel bin ich nicht gehoben genug – aber den Arbeitern genau genommen auch nicht. Sie wollen zu ihrem Arzt aufschauen können. Sie wollen nicht, dass er einer von ihnen ist.«
    »Ach, Blödsinn! Sie wollen bloß jemanden, der seine Arbeit gut macht! Und das tust du doch wirklich. Wenn es überhaupt etwas an dir auszusetzen gibt, dann höchstens, dass du zu gewissenhaft bist! Du verbringst viel zu viel Zeit damit, dir unnötige Sorgen zu machen. Du solltest lieber heiraten, dann wärst du all deine Sorgen los!«
    Ich lachte. »Ach, du lieber Gott! Ich kann ja kaum meinen eigenen Lebensunterhalt sichern, geschweige denn für Frau und Kinder sorgen!«
    Er hörte das alles nicht zum ersten Mal, doch er ließ mein Gejammer geduldig über sich ergehen. Anne brachte uns Kaffee, und wir unterhielten uns bis fast elf Uhr. Am liebsten wäre ich noch länger geblieben, doch da ich mir vorstellen konnte, wie wenig Zeit die beiden füreinander hatten, verabschiedete ich mich schließlich. Ihr Haus befindet sich gleich auf der anderen Seite des Dorfes, nur zehn Fußminuten von meinem entfernt; der Abend war immer noch warm und schwül, kein Lüftchen regte sich. Ich ging langsam, machte einen kleinen Umweg und hielt einmal an, um mir eine Zigarette anzuzünden, dann zog ich mein Jackett aus, lockerte die Krawatte und schritt in Hemdsärmeln weiter.
    Im Erdgeschoss meines Hauses befinden sich das Sprechzimmer, die Arzneiausgabe und das Wartezimmer; meine Küche und mein Wohnzimmer liegen im Stockwerk darüber, und das Schlafzimmer befindet sich unter dem Dach. Wie ich Caroline Ayres schon gesagt hatte, war es eine sehr einfache Wohnung. Ich hatte bisher weder Zeit noch Geld gehabt, sie hübscher zu gestalten, daher hatte sie noch immer die gleiche deprimierende Ausstattung, die ich schon bei meinem Einzug vorgefunden hatte: senfgelbe Wände und Kammmalerei auf den Holzflächen sowie eine enge, unpraktisch eingerichtete Küche. Eine Zugehfrau, Mrs. Rush, machte sauber und kochte für mich. Wenn ich nicht gerade mit Patienten beschäftigt war, hielt ich mich ohnehin die meiste Zeit unten auf, schrieb Rezepte oder las und arbeitete an meinem Schreibtisch. An diesem Abend ging ich gleich durch in mein Sprechzimmer, um meine Aufzeichnungen für den nächsten Tag anzuschauen und meine Tasche in Ordnung zu bringen, und erst als ich die Tasche aufklappte und das locker eingeschlagene braune Päckchen sah, erinnerte ich mich wieder an das Foto, das Mrs. Ayres mir gegeben hatte. Ich wickelte das Papier ab und betrachtete die Aufnahme noch einmal. Da ich immer noch unsicher war, was die Identität des blonden Dienstmädchens anging, nahm ich das Foto mit nach oben, um es mit anderen Bildern zu vergleichen. In einem der Schlafzimmerschränke verwahrte ich eine alte Keksdose voller Papiere und Familienandenken, die meine Eltern gesammelt hatten. Ich holte sie heraus, trug sie zum Bett und durchforstete ihren Inhalt.
    Schon seit Jahren hatte ich die Dose nicht mehr geöffnet und daher längst vergessen, was sich darin befand. Die meisten Dinge waren, wie ich verwundert feststellte, befremdliche Bruchstücke meiner eigenen Vergangenheit. Da fand sich zum Beispiel meine Geburtsurkunde, zusammen mit einer Art Taufbescheinigung; ein abgegriffener brauner Umschlag enthielt zwei

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