Der Besucher - Roman
meiner Milchzähne und eine geradezu unwirklich weiche, blonde Locke, die man mir wohl als Baby abgeschnitten hatte. Dann kam ein Durcheinander uralter Medaillen, die ich beim Schwimmen oder bei den Pfadfindern bekommen hatte; Zeugnisse und Gutachten, Aufzeichnungen über Preise, die ich gewonnen hatte – alles in bunt gemischter Folge, so dass ein zerknitterter Zeitungsartikel, der über meinen Abschluss an der Medical School berichtete, an einem Brief hängen geblieben war, in dem mein erster Schuldirektor mich »vehement« für ein Stipendium am Leamington College empfahl. Zu meiner Verwunderung fand sich dort sogar ebenjene Gedenkmünze, die mir am Empire Day auf Hundreds Hall von der jungen Mrs. Ayres überreicht worden war. Sie war sorgfältig in Seidenpapier eingeschlagen und lag mir schwer in der Hand, das bunte Band war nicht ausgefranst, die Bronzeoberfläche zwar stumpf, aber ansonsten makellos.
Vom Leben meiner Eltern jedoch fanden sich, wie ich mit Erschrecken feststellte, kaum irgendwelche Spuren. Vermutlich gab es einfach nicht viel, was sich archivieren ließ. Ein paar rührselige Postkarten aus Kriegszeiten mit ordentlich geschriebenen, aber orthografisch fehlerhaften, nichtssagenden Mitteilungen; eine Glücksmünze, in deren Mitte ein Loch für ein Band getrieben war; ein Strauß Papierveilchen – das war schon alles. Ich hatte Fotos in Erinnerung, doch hier war nur ein einziges, ein verblichenes postkartengroßes Bild, dessen Ecken sich wellten. Es war auf einem Jahrmarkt im Zelt eines Wanderfotografen aufgenommen worden und zeigte meine Mutter und meinen Vater als junges Paar. Sie posierten vor der unrealistischen Kulisse einer hochalpinen Landschaft, in einem mit Schnüren versehenen Wäschekorb, der wohl den Korb eines Heißluftballons darstellen sollte.
Ich stellte dieses Foto neben die Personengruppe von Hundreds und schaute von einem Bild zum andern. Weder der Winkel, in dem meine Ballonfahrer-Mutter ihren Kopf hielt, noch der Hut mit der traurig herabhängenden Feder lieferten mir jedoch irgendwelche weiteren Erkenntnisse, und schließlich gab ich den Vergleich auf. Das Foto vom Jahrmarkt stimmte mich irgendwie traurig, und als ich noch einmal die Ausschnitte und Dokumente meiner eigenen Leistungen betrachtete, die meine Eltern mit so viel Stolz und Aufmerksamkeit gesammelt hatten, schämte ich mich plötzlich. Mein Vater hatte Schulden machen müssen, um meine Ausbildung zu finanzieren, und diese Schulden hatten ihm wahrscheinlich die Gesundheit ruiniert; ganz sicher hatten sie dazu beigetragen, die meiner Mutter zu schwächen. Und was hatte das alles genutzt? Ich war ein ganz gewöhnlicher, durchschnittlich guter Arzt. Mit einem anderen Hintergrund hätte ich vielleicht besser als bloß gut sein können. Doch ich hatte mit Schulden im Nacken begonnen, und nach fünfzehn Jahren in einer kleinen Landarztpraxis ließ ein halbwegs ordentliches Einkommen immer noch auf sich warten.
Ich habe mich eigentlich nie für einen unzufriedenen Menschen gehalten; ich war immer viel zu beschäftigt, um mich missmutigen Gedanken hinzugeben. Doch von Zeit zu Zeit hatte ich meine dunklen Stunden, düstere Momente, in denen mir mein ganzes Leben so bitter, hohl und unbedeutend erschien wie eine taube Nuss, und auch jetzt überkam mich ein solcher Anfall von Trübsinn. Ich vergaß die vielen bescheidenen beruflichen Erfolge und hielt mir stattdessen jedes Versagen vor Augen: falsche Behandlungen, verpasste Gelegenheiten, Momente der Feigheit oder Enttäuschung. Ich dachte an die Kriegsjahre, die ich wenig ruhmreich hier in Warwickshire verbracht hatte, während meine jüngeren Kollegen, Graham und Morrison, sich beim Royal Medical Corps der Army gemeldet hatten. Ich spürte die leeren Zimmer unter mir und dachte an ein Mädchen, in das ich als Medizinstudent sehr verliebt gewesen war. Sie kam aus Birmingham, aus einer guten Familie. Ihre Eltern hatten mich nicht als geeignete Partie für ihre Tochter betrachtet, und schließlich hatte sie mir zugunsten eines anderen Mannes den Laufpass gegeben. Nach dieser ernüchternden Erfahrung hatte ich der Liebe den Rücken gekehrt, und die wenigen Affären, die ich seitdem hatte, waren eher halbherzige Geschichten gewesen. Nun kamen mir diese leidenschafslosen Umarmungen plötzlich wieder in den Sinn, in all ihren schnöden, mechanischen Einzelheiten. Ich verspürte eine Welle des Abscheus vor mir selbst und Mitleid mit den betroffenen Frauen.
Die Hitze im
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