Der Besucher - Roman
ihm vielleicht eine Elektrotherapie helfen würde – vorausgesetzt, er lässt mich überhaupt nahe genug an sich heran. Die Ayres scheinen stolz auf ihr isoliertes Leben da draußen zu sein. Wahrscheinlich kauterisieren sie sich die Wunden selbst und was weiß ich nicht alles … Hättest du etwas dagegen?«
Graham zuckte mit den Achseln. »Tu dir keinen Zwang an. Wie gesagt, mich haben sie schon so lange nicht mehr gerufen, dass ich mich eigentlich kaum noch als ihren Hausarzt bezeichnen kann. Aber ich erinnere mich noch gut an die Verletzung: ein hässlicher Bruch, der schlecht zusammengewachsen ist. Die Brandverletzungen hast du ja selbst gesehen.« Er aß noch einen Happen und meinte dann nachdenklich: »Ich glaube, da gab es auch irgendein nervliches Problem, als Roderick nach seinem Unfall wieder nach Hause kam.«
Das war neu für mich. »Tatsächlich? So schlimm kann es aber nicht gewesen sein. Jetzt wirkt er jedenfalls einigermaßen entspannt.«
»Na ja, es war immerhin so schlimm für die Familie, dass sie es möglichst geheim halten wollte. Aber Fälle dieser Art sind für solche Familien wohl immer besonders heikel. Ich glaube, Mrs. Ayres hat noch nicht mal eine Krankenschwester angefordert. Sie hat sich selbst um Roderick gekümmert und dann am Ende des Krieges sogar Caroline nach Hause zurückgeholt, damit sie ihr half. Dabei war Caroline ganz gut untergebracht; sie machte Dienst bei den Wrens oder der WAAF , soviel ich weiß. Ein sehr gescheites Mädchen.«
Er sagte »gescheit« mit der gleichen Betonung, wie ich sie auch schon von anderen gehört hatte, wenn sie über Caroline Ayres redeten, und mir war klar, dass auch er das Adjektiv mehr oder weniger als Euphemismus für ihr unattraktives Äußeres verwendete. Ich antwortete nicht, und wir aßen unseren Nachtisch schweigend auf. Anne legte den Löffel in ihre Schüssel und erhob sich dann, um ein Fenster zu schließen. Wir aßen spät und hatten eine Kerze auf dem Tisch angezündet; es fing gerade an, dunkel zu werden, und Motten flatterten um das Licht herum. Anne setzte sich wieder und sagte: »Könnt ihr euch noch an die erste Tochter auf Hundreds Hall erinnern? An Susan, das kleine Mädchen, das gestorben ist? Sie war genauso hübsch wie ihre Mutter. Ich war zu ihrem siebten Geburtstag eingeladen. Ihre Eltern hatten ihr einen silbernen Ring mit einem echten Diamanten geschenkt. Ach, wie ich sie um diesen Ring beneidet habe! Und ein paar Monate später war sie tot … Waren es nicht die Masern? Irgend so etwas muss es jedenfalls gewesen sein.«
Graham wischte sich den Mund mit seiner Serviette ab. »Diphtherie, oder?«
Sie verzog das Gesicht bei dem Gedanken. »Ja, stimmt. Eine schreckliche Geschichte … Ich kann mich noch an die Beerdigung erinnern. Der kleine Sarg und die vielen Blumen. Berge von Blumen waren es.«
Und plötzlich wurde mir bewusst, dass ich mich ebenfalls an die Beerdigung erinnern konnte. Mir fiel ein, dass ich mit meinen Eltern auf der High Street von Lidcote gestanden hatte, während der Sarg vorübergetragen wurde. Ich erinnerte mich an Mrs. Ayres in jungen Jahren, verhüllt mit einem schwarzen Schleier wie eine gespenstische Braut. Ich erinnerte mich, wie meine Mutter leise vor sich hin weinte und mein Vater mir die Hand auf die Schulter legte – und an den Geruch, den mein neuer Schulblazer und meine Kappe hatten, irgendwie streng und säuerlich, wie frisch eingefärbt.
Diese Erinnerung stimmte mich aus irgendeinem Grund trauriger, als es angebracht war. Anne und das Hausmädchen räumten das Geschirr ab, während Graham und ich am Tisch sitzen blieben und über diverse Praxisangelegenheiten diskutierten, was mich noch mehr deprimierte. Graham war jünger als ich, verdiente jedoch besser; er war als Sohn eines Arztes in die Praxis eingetreten und hatte den Anteil seines Vaters übernommen; Geld und Ansehen brachte er also schon von Hause aus mit. Ich dagegen war als eine Art Lehrling beim Praxispartner seines Vaters eingestiegen, bei Dr. Gill, dem »komischen Kauz«, wie Roderick ihn genannt hatte. Doch das war noch eine viel zu schmeichelhafte Bezeichnung für den faulen, aber gerissenen alten Mann, der sich als mein Lehrherr und Förderer darstellte, mich aber über viele Jahre in seiner Praxis ausgebeutet hatte, ehe ich ihm seinen Anteil abkaufen konnte. Gill hatte sich noch vor dem Kriege zur Ruhe gesetzt und lebte nun in einem schmucken Fachwerkhaus in der Nähe von Stratford-on-Avon.
Ich dagegen machte
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