Der Besucher - Roman
Dachzimmer war erdrückend. Ich schaltete die Lampe aus, zündete mir eine Zigarette an und legte mich zwischen die Fotografien und Ausschnitte auf das Bett. Das Fenster stand offen, der Vorhang war zur Seite gezogen. Kein Mond war am Himmel zu sehen, doch die zögerliche Dunkelheit des Sommers war unruhig, voller feiner Bewegungen und Geräusche. Ich starrte ins Dunkel und hatte – wie eine Art seltsames Nachbild des Tages – Hundreds Hall vor Augen. Ich sah die kühlen, dufterfüllten Zimmer und das Licht, das das Haus umfangen hielt wie Wein in einem Glas. Und ich stellte mir vor, was seine Bewohner wohl gerade machten: Betty in ihrem Zimmer, Mrs. Ayres und Caroline in den ihren, Roderick in seinem …
So lag ich lange Zeit reglos mit offenen Augen da, während die Zigarette langsam herunterbrannte und zwischen meinen Fingern zu Asche wurde.
2
Ü ber Nacht war mein Anfall von Unzufriedenheit verschwun den; am nächsten Morgen hatte ich meine düsteren Gedanken fast vergessen. Mit diesem Tag begann eine kurze, ziemlich arbeitsreiche Phase für Graham und mich, denn begünstigt durch die Hitze waren in unserer Gegend eine Reihe kleinerer Epidemien ausgebrochen, und überdies machte eine unangenehme Sommergrippe ihre Runde durch die Dörfer. Ein ohnehin schon zartes, anfälliges Kind war schwer erkrankt, und ich verbrachte viel Zeit mit seiner Behandlung; an manchen Tagen machte ich zwei bis drei Hausbesuche, bis es ihm besser ging. Und es gab kaum Geld dafür, denn seine Familie war in einer Hilfskasse, was bedeutete, dass ich pro Jahr nur eine festgesetzte Summe von ein paar Schilling für seine Behandlung und die seiner Brüder und Schwestern bekam. Doch ich kannte seine Familie gut und mochte sie und war daher froh, als er sich endlich erholte; auch zeigten die Eltern rührende Dankbarkeit.
Mitten in dem ganzen Trubel besann ich mich gerade noch, Betty das Medikament nach Hundreds Hall zu schicken, aber ich hatte keinen weiteren persönlichen Kontakt mit ihr oder der Familie Ayres. Nach wie vor fuhr ich bei meinen Hausbesuchen an der Mauer von Hundreds Hall vorbei, und ab und zu ertappte ich mich, wie ich mit einer Art Wehmut an die dahinterliegende ungepflegte Parklandschaft mit dem vernachlässigten Haus dachte, das still und heimlich immer weiter verfiel. Doch als wir den Höhepunkt des Sommers überschritten hatten und die Tage kürzer wurden, verschwendete ich kaum mehr einen Gedanken daran. Mein Besuch bei den Ayres kam mir bald einigermaßen unwirklich vor – wie ein lebhafter, aber unwahrscheinlicher Traum.
Dann, an einem Abend Ende August – also mehr als einen Monat nachdem ich zum Herrenhaus gefahren war, um Betty zu behandeln –, fuhr ich über einen Feldweg außerhalb von Lidcote, als mein Blick auf einen großen schwarzen Hund fiel, der im Staub am Wegesrand herumschnüffelte. Es muss gegen halb acht gewesen sein. Die Sonne stand noch am Himmel, doch dieser verfärbte sich schon rötlich; ich hatte meine Abendsprechstunde beendet und war auf dem Wege zu einem Patienten in einem der benachbarten Dörfer. Der Hund fing an zu bellen, als er mein Auto hörte, und als er den Kopf hob, sah ich die grauen Haare in seinem Fell und erkannte Gyp wieder, den alten Labrador von Hundreds. Gleich darauf sah ich am Wegesrand, im Schatten der Bäume, auch Caroline. Ohne Hut und Strümpfe war sie gerade dabei, Brombeeren zu pflücken. Sie hatte sich so weit in die Hecken vorgearbeitet, dass ich sie im Vorbeifahren wohl kaum bemerkt hätte, wenn mein Blick nicht vorher auf Gyp gefallen wäre. Ich sah, wie sie den Hund zur Ruhe rief; dann drehte sie den Kopf in Richtung meines Wagens und kniff die Augen gegen das reflektierende Licht der Windschutzscheibe zusammen. Nun bemerkte ich, dass sie den Träger einer Schultertasche über der Brust trug und ein gepunktetes Taschentuch in der Hand hielt, das sie wie Dick Whittington zu einem Bündel zusammengeknotet hatte. Ich bremste und rief ihr durch das geöffnete Fenster zu:
»Wollen Sie etwa von zu Hause ausreißen, Miss Ayres?«
Da erkannte sie mich, lächelte und arbeitete sich vorsichtig rückwärts wieder aus den Brombeersträuchern heraus. Sie hob eine Hand, um ihr Haar von den Ranken zu befreien, dann machte sie einen letzten Satz auf die staubige Straße. Sie klopfte sich den Rock ab – sie trug wieder dasselbe unvorteilhaft geschnittene Baumwollkleid wie bei unserer letzten Begegnung – und erwiderte: »Ich war im Dorf und
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