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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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entschuldigten und auf den Heimweg machten. Da sich etliche Leute Fahrzeuge geteilt hatten, wurde die Schar rasch weniger. Bald blickten auch die Besucher aus Sussex und Kent verstohlen auf ihre Uhren und dachten an die lange, unbequeme Heimreise per Auto oder Bus, die noch vor ihnen lag. Einer nach dem anderen verabschiedete sich mit gefühlvollen Worten von Caroline, küsste und umarmte sie; Tante und Onkel unternahmen noch einen letzten erfolglosen Versuch, sie zum Mitkommen zu bewegen. Ich sah, wie Caroline mit jeder Verabschiedung erschöpfter wurde; sie war wie eine Blume, die von Hand zu Hand ging und dabei immer weiter verwelkte. Als die letzten Gäste gingen, begleiteten wir sie noch zur Vordertür, standen auf den baufälligen Treppenstufen und sahen den Autos hinterher, die über den Kies davonknirschten. Dann schloss Caroline die Augen und bedeckte ihr Gesicht; ihre Schultern sanken zusammen, und ich konnte sie nur noch in meinen Armen auffangen und sie in den warmen, kleinen Salon zurückführen. Ich setzte sie in einen der Ohrensessel am Kamin – den Sessel, in dem ihre Mutter immer gesessen hatte.
    Sie rieb sich die Stirn. »Ist es wirklich vorbei? Das war der längste Tag meines Lebens! Mein Kopf ist kurz davor zu zerspringen.«
    »Ich wundere mich, dass du noch nicht zusammengebrochen bist!«, sagte ich. »Du hast überhaupt nichts gegessen.«
    »Ich bringe nichts herunter.«
    »Nur ein Häppchen? Bitte!«
    Doch sie wollte nichts essen, egal, was ich ihr auch anbot. Also mixte ich ihr schließlich ein Glas mit Sherry, Zucker und heißem Wasser, und das trank sie, zusammen mit ein paar Aspirin. Als Betty anfing, den Tisch abzudecken und die Möbel wieder an ihren alten Platz zu rücken, erhob sie sich ganz automatisch und wollte helfen, doch ich schob sie sanft, aber bestimmt wieder in den Sessel zurück und brachte ihr noch weitere Kissen und eine Decke. Dann zog ich ihr die Schuhe aus und massierte ihr kurz die Zehen in den Strümpfen. Sie schaute unglücklich zu, während Betty die Teller zusammenstellte, doch bald überkam sie die Erschöpfung. Sie legte die Beine hoch, lehnte die Wange an den abgewetzten Samtflor des Sessels und schloss die Augen.
    Ich schaute zu Betty hinüber und legte den Finger an die Lippen. Gemeinsam arbeiteten wir schweigend weiter, luden leise das Geschirr auf die Tabletts und trugen sie auf Zehenspitzen aus dem Zimmer. Unten in der Küche zog ich mein Jackett aus, stellte mich neben das Mädchen an die Spüle und trocknete Geschirr und Gläser ab, die sie mir tropfend angab. Sie schien das ebenso wenig befremdlich zu finden wie ich. Hundreds Hall war aus seinen täglichen Gewohnheiten gerissen worden, und genau wie ich es in anderen Trauerhäusern beobachtet hatte, fand sich ein eigenartiger Trost in der gewissenhaften Erledigung alltäglicher Pflichten.
    Doch als der Abwasch beendet war, sanken auch Bettys schmale Schultern nach vorn, und ich ließ sie einen Topf Suppe warmmachen, zum einen weil ich plötzlich merkte, wie hungrig ich war, zum anderen aber auch, um ihr eine Beschäftigung zu geben. Wir trugen jeder eine Schale zum Tisch, und als ich meine Schale auf den geschrubbten Bohlentisch stellte und auslöffelte, wurde ich nachdenklich.
    Ich sagte: »Als ich das letzte Mal an diesem Tisch gegessen habe, Betty, war ich zehn Jahre alt. Meine Mutter war dabei; sie saß genau da, wo du jetzt sitzt.«
    Sie wandte mir ihre rotgeränderten Augen zu und blickte mich unsicher an. »Is das komisch für Sie, Sir?«
    Ich lächelte. »Ja, ein bisschen schon. Ich hätte nie damit gerechnet, dass ich eines Tages wieder hier sitzen würde, einfach so. Ich wette, meine Mutter hätte damit auch nie gerechnet. Ein Jammer, dass sie es nicht mehr miterleben konnte … Ich wünschte, ich hätte meine Mutter früher freundlicher behandelt. Und meinen Vater auch. Ich hoffe, dass du netter zu deinen Eltern bist!«
    Sie stützte einen Ellbogen auf den Tisch und legte das Kinn in die Hand. »Sie gehn mir auf die Nerven!«, sagte sie seufzend. »Mein Vater hat erst so’n Theater gemacht, dass ich hier anfangen soll. Und jetzt redet er dauernd auf mich ein, dass ich wieder weggehn soll.«
    »Wirklich?«, sagte ich beunruhigt.
    »Ja. Er hat all die Sachen in den Zeitungen gelesen, und er sagt, dass das Haus komisch geworden is. Es wär nich mehr geheuer. Mrs. Bazeley sagt das auch. Sie is heut Morgen zwar gekommen, aber als sie ging, hat sie ihre Schürze mitgenommen. Sie sagt, dass sie nich

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