Der Besucher - Roman
mehr wiederkommt. Sie sagt, was mit Madam passiert is, wär ihr zu viel; ihre Nerven machen das nich mehr mit. Sie sagt, lieber würd sie Wäsche ins Haus nehmen … Ich glaub, sie hat’s Miss Caroline noch nich gesagt.«
»Tut mir leid, das zu hören. Aber du wirst doch nicht auch noch kündigen, oder?«
Sie löffelte ihre Suppe und wich meinem Blick aus. »Ich weiß nich. Is nich mehr dasselbe ohne Madam.«
»Ach, Betty, bitte tu das nicht. Ich weiß, dass das Leben im Haus im Moment sehr traurig ist. Aber du und ich, wir sind alles, was Miss Caroline noch hat. Ich kann nicht die ganze Zeit über hier sein, um auf sie aufzupassen – aber du kannst das. Wenn du nun auch noch gehst …«
»Ich will ja gar nich gehn, wirklich nich. Ich will ja auch gar nich nach Hause zurück. Aber mein Vater …«
Sie klang aufrichtig bestürzt, und ihre Treue dem Haus gegenüber, nach allem, was passiert war, rührte mich. Ich sah ihr noch ein wenig beim Essen zu und dachte darüber nach, was sie mir erzählt hatte, dann sagte ich vorsichtig: »Und wenn du deinem Vater sagen könntest … nun ja … dass sich die Dinge hier auf Hundreds Hall bald verändern?« Ich zögerte. »Wenn du ihm zum Beispiel sagen könntest, dass Miss Caroline bald heiratet …«
»Heiratet?« Sie starrte mich erstaunt an. »Aber wen denn?«
Ich lächelte. »Nun, was glaubst du wohl, wen?«
Sie verstand mich und errötete, und albernerweise errötete ich gleich mit. Ich sagte: »Aber nun sprich bitte nicht weiter darüber. Ein paar Leute wissen es, die meisten aber noch nicht.«
Sie setzte sich aufrecht hin und war plötzlich ganz aufgekratzt: »Und wann wird die Hochzeit stattfinden?«
»Ich weiß es noch nicht. Wir haben noch keinen Termin festgelegt.«
»Und was wird Miss Caroline anziehen? Muss sie was Schwarzes tragen, wegen Madam?«
»Gütiger Himmel, das hoffe ich doch nicht!«, erwiderte ich. »Wir leben schließlich nicht mehr im neunzehnten Jahrhundert! Komm, jetzt iss deine Suppe auf.«
Doch ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen. Sie sagte: »Ach, aber isses nich ein Jammer, dass Madam das nich mehr miterleben kann! Und wer soll jetzt der Brautführer sein? Eigentlich müsste das doch Mr. Roderick machen, oder?«
»Ich fürchte, Mr. Roderick ist immer noch zu krank.«
»Ja, aber wer kann es dann machen?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht Mr. Desmond. Oder vielleicht auch gar keiner. Ich denke, Miss Caroline findet den Weg zum Altar auch allein, oder?«
Sie sah entsetzt aus. »Aber das geht doch gar nich, oder?«
Wir unterhielten uns noch ein paar Minuten und waren nach dem anstrengenden Tag beide froh über das heitere Thema. Als wir aufgegessen hatten, wischte sie sich die Augen, schnäuzte sich und trug dann die Schüsseln und Löffel zur Spüle. Ich zog mein Jackett wieder an, schöpfte dann eine weitere Portion Suppe in eine Schüssel und trug sie, mit einem Teller bedeckt, nach oben in den kleinen Salon.
Caroline schlief immer noch, doch als ich zu ihr trat, schreckte sie empor, stellte ihre Füße auf und erhob sich halb. Auf ihrer Wange, dort, wo sie am Sessel gelehnt hatte, waren Abdrücke, wie knitteriges Leinen.
Noch halb im Schlaf fragte sie: »Wie spät ist es?«
»Es ist halb sieben. Schau mal, ich habe dir ein bisschen Suppe mitgebracht.«
»Oh.« Ihr Ausdruck wurde ein wenig wacher. Sie rieb sich über das Gesicht. »Ich glaube nicht, dass ich etwas essen kann.«
Doch ich stellte das Tablett quer über den Armlehnen ihres Sessels ab, so dass sie gar nicht daran vorbeikam. Ich legte ihr eine Serviette auf den Schoß und sagte: »Probier nur ein kleines bisschen, bitte. Ich habe Angst, dass du sonst noch krank wirst.«
»Ich möchte wirklich nichts.«
»Ach bitte. Sonst ist Betty noch ganz beleidigt. Und ich auch. So ist es gut, braves Mädchen!«
Sie hatte den Löffel in die Hand genommen und rührte damit halbherzig in der Suppe herum. Ich rückte einen Schemel heran und setzte mich neben sie, stützte das Kinn auf die Faust und betrachtete sie ernst, und sie fing an zu essen, ganz langsam, Löffelchen für Löffelchen. Sie aß ohne Genuss, zwang sich praktisch die Häppchen mit Fleisch und Gemüse hinein, doch als sie fertig war, sah sie schon besser aus und hatte wieder Farbe in den Wangen. Ihre Kopfschmerzen seien besser geworden, sagte sie, sie fühle sich bloß immer noch so schrecklich schwach. Ich räumte das Tablett beiseite und nahm ihre Hand, doch sie zog sie wieder weg, hielt sie sich
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