Der Besucher - Roman
gehässige Genugtuung verwandeln würden … Es war unerträglich. Ich stand auf und rannte hin und her, so wie ich es oft bei sehr kranken Patienten beobachtet hatte, die versuchten, ihre Schmerzen durch Auf- und Ablaufen zu bekämpfen. Im Gehen trank ich weiter und machte mir nicht mal mehr die Mühe, das Glas zu benutzen, sondern trank direkt aus der Flasche, wobei mir der Sherry über das Kinn rann. Und als die Flasche leer war, ging ich nach oben und durchsuchte die Schränke im Wohnzimmer nach einer weiteren. Ich fand einen Flachmann mit Brandy, eine verstaubte Flasche Schlehenschnaps sowie ein kleines Fässchen mit irgendeinem polnischen Schnaps aus Vorkriegszeiten, das ich mal auf einer Wohltätigkeitstombola gewonnen hatte und mich bisher nicht getraut hatte zu probieren. Ich goss alles zu einer scheußlichen Mixtur zusammen und zwang sie mir hustend und spuckend hinein. Wahrscheinlich hätte ich besser ein Beruhigungsmittel genommen, doch ich sehnte mich wohl nach der Aura von Verkommenheit, die das Trinken mit sich brachte. Ich erinnere mich, dass ich in Hemdsärmeln auf dem Bett lag und immer weitertrank, bis ich einschlief oder das Bewusstsein verlor. Stunden später wurde ich im Dunkeln wach und übergab mich heftig. Dann schlief ich wieder ein, und als ich das nächste Mal aufwachte, zitterte ich; die Nacht war kühl geworden. Ich kroch unter die Bettdecke, fühlte mich hundelend und war beschämt über mich selbst. Danach konnte ich nicht wieder einschlafen. Ich sah, wie es draußen vor dem Fenster hell wurde, und meine Gedanken waren plötzlich so klar wie Eiswasser. Ich sagte mir: Natürlich hast du sie verloren. Wie hast du nur glauben können, dass du sie je besessen hast? Schau dich doch an! Schau nur, in was für einem Zustand du bist. Du hast sie nicht verdient.
Doch um sich selbst zu schützen, bringt das Bewusstsein eigenartige Kunststücke zuwege, und so hob sich meine Stimmung ein wenig, nachdem ich erst einmal aufgestanden war, mich gewaschen und mir eine Tasse Kaffee gekocht hatte. Der Tag war sonnig und mild, genau wie der vorangehende, und plötzlich schien es mir unmöglich, dass sich von einem Tagesanbruch zum nächsten die Dinge so dramatisch verändert haben sollten. Im Geiste ging ich das Gespräch mit Caroline noch einmal durch, und während die erste Kränkung durch ihre scharfen Worte allmählich nachließ, wunderte ich mich plötzlich selbst, dass ich ihr Verhalten überhaupt so ernst genommen hatte. Ich rief mir wieder ins Bewusstsein, wie erschöpft und deprimiert sie war, dass sie noch immer unter Schock über den Tod ihrer Mutter stand, ganz zu schweigen von all den Ereignissen, die dem vorausgegangen waren. Schon seit Wochen hatte sie sich unberechenbar verhalten, war einer absonderlichen Idee nach der anderen erlegen, und es war mir noch jedes Mal gelungen, sie eines Besseren zu belehren. Ganz sicher war ihr gestriges Verhalten nur wieder ein neuer spinnerter Einfall, das Resultat ihrer seelischen Belastungen. Bestimmt konnte ich sie wieder zur Vernunft bringen – ich wurde mir zunehmend sicher, dass mir das gelingen würde. Mir kam sogar der Gedanke, dass sie genau das bezweckt hatte: Womöglich sehnte sie sich danach; womöglich hatte sie mich nur herausfordern und mir etwas entlocken wollen, das ich ihr bisher nicht ausreichend hatte zeigen können.
Dieser Gedanke gab mir neuen Auftrieb und linderte meinen Kater gleich erheblich. Meine Haushälterin kam und war beruhigt, dass es mir wieder besser ging; sie sagte, sie habe sich die ganze Nacht Sorgen um mich gemacht. Meine Morgensprechstunde begann, und ich widmete mich mit besonderer Anstrengung den Beschwerden meiner Patienten, um die Entgleisung des Vortags wiedergutzumachen. Ich rief David Graham an und teilte ihm mit, dass meine Magenverstimmung vorüber sei. Erleichtert übertrug er mir eine Reihe von Fällen, und ich verbrachte den Rest des Vormittags gewissenhaft mit Hausbesuchen.
Dann fuhr ich wieder nach Hundreds zurück. Ich betrat das Haus durch die Gartentür und ging schnurstracks zum kleinen Salon weiter. Das Haus erschien mir so vertraut, dass ich mit jedem Schritt zuversichtlicher wurde: Alles sah noch genauso aus wie bei meinem letzten Besuch und jedem der vorangehenden Besuche. Als ich Caroline am Schreibtisch vorfand, wo sie einen Stapel Papiere durchging, rechnete ich fast damit, dass sie aufstehen und mich mit einem verlegenen, unterwürfigen Lächeln begrüßen würde. Ich ging sogar ein
Weitere Kostenlose Bücher