Der Besucher - Roman
kühnen Versuch: »Ich nehme ihn aber nur fürs Erste mit. Nur vorübergehend, denk dran. Ich behalte ihn, bis ich ihn dir an den Finger stecken kann.«
Sie sah aus, als würde sie sich unwohl fühlen, sprach aber immer noch ruhig.
»Bitte tu das nicht. Ich weiß, dass es schwer ist, aber bitte mach du es uns nicht noch schwerer. Du darfst nicht glauben, dass ich krank bin oder Angst habe oder mich bloß albern verhalte. Und denk bloß nicht, dass ich irgendwelche weiblichen Spielchen mit dir spiele. So was sagt man den Frauen ja gerne nach: dass sie eine Szene machen oder ihren Mann dazu bringen wollen, um sie zu kämpfen.« Sie verzog das Gesicht. »Ich hoffe, du kennst mich besser, als mir so etwas zuzutrauen.«
Ich schwieg. Wieder war Panik in mir aufgestiegen – Panik und Verzweiflung, wenn ich mir vorstellte, dass ich sie wollte und nicht haben konnte. Sie war näher gekommen, um mir den Ring zu geben. Alles, was uns jetzt noch trennte, war ein Meter kühle, klare Luft. Ich spürte, wie mein Körper durch diesen Luftraum von ihr angezogen wurde, so stark und dringlich, dass ich mir kaum vorstellen konnte, dass sie nicht einen ebensolchen Zug verspürte. Doch als ich sie umarmen wollte, wich sie zurück und sagte entschuldigend: »Bitte nicht.« Dann streckte ich wieder den Arm aus, und sie bewegte sich noch schneller von mir fort. Ich erinnerte mich daran, wie sie bei meinem letzten Besuch fast panisch vor mir zurückgewichen war. Doch dieses Mal wirkte sie nicht, als ob sie Angst hätte, und als sie sprach, war jedes Bedauern aus ihrer Stimme gewichen. Sie klang eher so, wie ich sie aus der Zeit in Erinnerung hatte, als ich sie kennen lernte und sie mir manchmal hart und kalt erschienen war.
Sie sagte: »Wenn ich dir auch nur irgendwas bedeute, dann versuch das nie wieder! Ich schätze und achte dich sehr, und es täte mir leid, wenn sich das ändern sollte.«
In beinahe ebenso verzweifeltem Zustand wie am Vortag fuhr ich nach Lidcote zurück. Doch diesmal kämpfte ich mich durch den Nachmittag, und erst als meine Abendsprechstunde vorüber war und die Nacht drohend näher rückte, verließen mich meine Nerven. Wieder lief ich unruhig auf und ab, unfähig zu arbeiten, und quälte mich mit dem Gedanken, dass ich in einem einzigen Moment – durch ein paar wenige Worte nur – meinen Anspruch auf Caroline, auf Hundreds Hall und auf unsere glückliche Zukunft verwirkt haben sollte. Ich konnte das weder verstehen noch konnte ich es so einfach geschehen lassen. Ich setzte meinen Hut auf, stieg wieder ins Auto und machte mich auf den Weg nach Hundreds. Am liebsten hätte ich Caroline gepackt und sie richtig durchgeschüttelt, bis sie wieder Vernunft annahm.
Doch dann kam mir eine bessere Idee, so schien es mir jedenfalls. An der Kreuzung nach Hundreds bog ich in Richtung Norden ab, auf die Straße nach Leamington, und fuhr zum Haus von Harold Hepton, dem Anwalt der Familie Ayres.
Ich hatte völlig vergessen, wie spät es inzwischen war. Als das Dienstmädchen der Heptons mich einließ, hörte ich Stimmen und das Klappern von Geschirr. Auf der Standuhr in der Eingangshalle sah ich, dass es schon nach halb neun war, und mir wurde zu meiner Bestürzung bewusst, dass die Familie wahrscheinlich gerade ihr Abendessen einnahm. Hepton kam mit einer Serviette in der Hand aus dem Esszimmer, um mich zu begrüßen, und tupfte sich noch Saucenreste aus dem Mundwinkel.
»Es tut mir leid, dass ich Sie gestört habe«, sagte ich. »Ich komme lieber ein andermal wieder.«
Doch er legte die Serviette aus der Hand und meinte gutgelaunt: »Unsinn. Wir sind schon fast fertig, und ich bin froh über eine kleine Pause, bevor der Nachtisch kommt. Außerdem ist es immer schön, mal ein männliches Gesicht zu sehen – ich bin in diesem Haus hier nur von Frauen umgeben! Kommen Sie doch mit in mein Arbeitszimmer, da ist es ruhiger.«
Er führte mich in sein Büro, das im hinteren Teil des vornehmen Hauses lag und Blick auf den weitläufigen Garten hatte. Er und seine Frau kamen beide aus vermögenden Familien und hatten es irgendwie geschafft, ihre Besitztümer zu wahren. Beide waren eifrige Teilnehmer der örtlichen Fuchsjagden, wovon auch zahlreiche Andenken an den Wänden des Zimmers kündeten: Reitgerten, Trophäen und Fotos von Jagdgesellschaften.
Er schloss die Tür, bot mir eine Zigarette an und nahm sich selbst auch eine. Dann lehnte er sich an die Kante seines Schreibtischs, während ich mich angespannt auf einem der
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